Brian Lumleys Necroscope Buch 3: Blutmesse (German Edition)
ein Gesicht, dass er von früher gut kannte, als es noch jemand anderem gehört hatte. Es hatte mehr Falten als damals und auch mehr – Charakter. Nicht dass Alec Kyle keinen Charakter gehabt hätte, aber Harry hatte Alecs Konturen allmählich den eigenen Stempel aufgedrückt. Und eine tiefe Müdigkeit lag auf diesem Gesicht. Ein Zeichen von schwerem Leid.
»Harry, habe ich da gerade gehört, das Leben habe keinen Sinn mehr? Meinst du das wirklich?«
Harry sah ihn scharf an: »Wie lange hast du schon gelauscht?«
Clarke war brüskiert. »Ich habe dort an der Mauer gestanden, Harry. Ich habe dich nicht belauscht. Aber ... ich wollte dich nicht stören, das ist alles. Ich meine«, er nickte zum Fluss hinüber, »deine Mutter ist da, oder?«
Harry fühlte sich plötzlich in die Enge gedrängt. Er wich Clarkes Blick aus, dann sah er wieder zurück und nickte. Er hatte von diesem Mann nichts zu befürchten. »Ja«, sagte er, »sie ist hier. Ich habe mit meiner Mutter gesprochen.«
Instinktiv blickte Clarke sich um. »Du hast mit deiner Mutter ...?« Dann sah er noch einmal zum vorbeifließenden Fluss, und sein Gesichtsausdruck wandelte sich. Leise sagte er: »Natürlich, ich hatte das beinahe vergessen.«
»Ach ja?« Harry war leicht zu verärgern. »Willst du damit sagen, dass das nicht der Grund ist, weswegen du hier bist?« Dann entspannte er sich ein wenig. »Na gut, komm mit zum Haus zurück. Wir können beim Gehen reden.«
Als sie sich ihren Weg durch trockenes Gestrüpp und Unkraut bahnten, beobachtete Clarke unauffällig den Necroscopen. Harry wirkte nicht nur fahrig und unkonzentriert, auch sein Äußeres schien ein wenig vernachlässigt. Er trug ein offenes Hemd unter einem ausgebeulten grauen Pullover, dünne graue Hosen und zerkratzte Schuhe, die Kleidung von jemandem, der nicht auf sich achtet. »Du holst dir in der Kälte noch den Tod«, sagte Darcy mit ehrlicher Sorge im Tonfall. Der Leiter des E-Dezernats zwang sich zu einem Lächeln. »Hat dir das noch niemand gesagt? Wir haben bald November ...«
Sie gingen am Fluss entlang zu einem großen viktorianischen Haus, das hinter einer hohen Steinmauer dräute. Das Haus hatte einst Harrys Mutter gehört, dann seinem Stiefvater, und jetzt hatte Harry es geerbt. »Die Zeit ist nichts, worüber ich mir großartig Gedanken mache«, sagte er schließlich. »Wenn ich merke, dass es kälter wird, ziehe ich mich wärmer an.«
»Aber das ist auch nicht so wichtig, oder?«, meinte Clarke. »Es scheint egal zu sein. Alles ist irgendwie egal. Das bedeutet, dass du sie noch nicht gefunden hast. Es tut mir leid, Harry.«
Jetzt war es an Harry, Clarke genauer in Augenschein zu nehmen.
Der Leiter des E-Dezernats hatte den Job erhalten, weil er nach Harry der überzeugendste Kandidat gewesen war. Clarkes Talent garantierte Beständigkeit. Er war das, was man einen Deflektor nannte, das Gegenteil von einem Unglücksraben. Er konnte durch ein Minenfeld spazieren und kam ohne einen Kratzer wieder heraus. Selbst wenn er auf eine Mine treten würde, wäre das mit Sicherheit ein Blindgänger. Sein Talent beschützte ihn, und das war auch schon alles, was es fertig brachte. Aber so war garantiert, dass er immer da sein würde, dass nichts und niemand ihn ausschalten konnte, so wie seine beiden Vorgänger ausgeschaltet worden waren. Auch Darcy Clarke würde natürlich so wie alle Menschen eines Tages sterben, aber in seinem Fall würde das an Altersschwäche sein.
Doch wenn man Clarke so ansah und das nicht wusste ... niemand würde glauben, dass er irgendwo eine leitende Position innehatte, und ganz bestimmt nicht bei der geheimsten Abteilung des Secret Service. Harry dachte: Er ist wahrscheinlich die Idealbesetzung eines unscheinbaren Mannes. Mittelgroß – ungefähr einsfünfundsiebzig –, mausbraunes Haar, leicht hängende Schultern und ein kleiner Bauch, aber dennoch nicht übergewichtig. Er wirkte einfach in jeder Hinsicht durchschnittlich. Und in fünf oder sechs Jahren würde er auch in mittleren Jahren sein!
Helle haselnussbraune Augen erwiderten Harrys Blick aus einem Gesicht, das gern lachte, bei dem Harry aber den Verdacht hatte, dass es das schon seit einiger Zeit nicht mehr getan hatte. Obwohl Clarke mit Anorak und Schal sehr warm gekleidet war, sah er verfroren aus. Weniger körperlich als vielmehr emotional.
»Das ist richtig«, antwortete der Necroscope schließlich, »ich habe sie nicht gefunden, und das hat mir in gewisser Weise den Lebensmut
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