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Briefe an eine Freundin

Briefe an eine Freundin

Titel: Briefe an eine Freundin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm von Humboldt
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zu würdigen, mehr noch die Charakterseiten, die dazu erfordert werden.
    Gern möchte ich Sie indes in einer freieren Lage und in Beschäftigungen wissen, worin Sie bei zunehmenden Jahren weniger angestrengt, mehr sich selbst lebten: das müßte, denke ich, zu erreichen sein. Ja, teure Charlotte, ich möchte Sie so gern aus Ihrer sehr angestrengten Lebensweise herausgehoben wissen
und weiß zugleich, daß, was für viele andere paßt, doch nicht für Sie ist.
    Sie haben sehr oft in Ihren Briefen des schönen Verhältnisses gedacht, worin Sie von Kindheit an, durch alle wechselnden Schicksale Ihres Lebens, bis an sein Grab, zu Ewald gestanden; Sie denken mit gerührter Dankbarkeit des Einflusses, den er auf Sie gehabt, und der unendlichen Teilnahme, die er Ihnen in Rat und Tat durch ein langes Leben trostvoll bewiesen. Hat er nie die Idee in Ihnen geweckt, Vorteil aus Ihrer Feder zu ziehen? Wie viele Frauen taten und tun das, die vielleicht weniger dazu berechtigt sind als Sie. Denken Sie nur an Therese Huber, deren Sie schon mehrmals mit Liebe erwähnt haben, die Ihnen durch gemeinschaftliche Freunde näher bekannt war. Es war wirklich Notwendigkeit, was sie bestimmte zum Schreiben. Anfangs war sie gewiß weniger dazu befähigt als Sie. Sie wenden mir hier vielleicht ein, Therese Huber arbeitete an der Seite ihres Mannes, unter seinem Schutz, Forthilfe und Korrektur. Wenn Sie einen solchen Entschluß fassen auf meinen Rat, so ist es billig, daß ich Ihnen hilfreich bin. Schreiben Sie Ihre Ansichten, Gedanken, Betrachtungen über freigewählte Gegenstände. Ihre eigenen Schicksale und mancher, die Ihnen näher standen, bieten Ihnen gewiß Stoff genug, mehr noch Ihr reiches, inneres Leben, das auch in der sehr einfachen und angestrengten Lebensweise sich nie erschöpfte. Die Schilderungen
innerer Seelenzustände gelingen Ihnen ganz vorzüglich.
    Denken Sie meinem Vorschlage nach, prüfen Sie Ihre inneren Kräfte, seien Sie nicht zu bescheiden und sagen mir, mit dem Vertrauen, das Sie mir ja immer und unwandelbar so gütig zeigen, und worauf meine Teilnahme an allem, was Sie angeht, auch gerechten Anspruch hat, Ihre Meinung.
    Und nun leben Sie herzlich wohl, liebe Charlotte, ich erschrecke selbst über die Länge meines Briefes, aber Sie finden darin einen Beweis der innigen Teilnahme, womit ich Ihnen angehöre und unwandelbar angehören werde. Ihr H.
     
     
Tegel
, den 12. Juni 1827.
     

    I hr lieber Brief, am 5. d. M. zur Post gegeben, hat mir, wie alle Ihre Briefe, wieder viel Freude gemacht, und ich danke Ihnen herzlich dafür, liebe Charlotte.
    Ich weiß nicht, ob Sie in Ihrer Gegend auch so viele Gewitter haben. Neulich dauerte hier eins die ganze Nacht hindurch, und ich erinnere mich, nie so schöne und mannigfaltige Donner gehört zu haben. Alle Arten des fernen und langsamen und dann beschleunigten Rollens und der Schläge, die mit Krachen immer die Höhe verraten, kamen hintereinander vor. Ich saß, wie ich gewöhnlich tue, bis nach ein Uhr an meinem Schreibtisch beschäftigt, ging aber noch während des Gewitters zu Bette und
schlief ein, als es noch in voller Stärke war. Ich liebe unter allen Naturerscheinungen die Gewitter vorzugsweise. Ob sie gleich freilich oft großen Schaden anrichten und schmerzliche Verluste herbeiführen, so sind sie doch auch durch Kühlung und den Regen, den sie gewähren, höchst wohltätig. Hier in Tegel kommen sie selten recht herauf, weil der sehr große See das ist, was die Leute eine Wetterscheide nennen. Haben sie aber den Übergang über den See gemacht, so ist es ein Beweis, daß sie groß genug waren, um den Abgang an Elektrizität, welche die Wassermasse ihnen nimmt, ertragen zu können, und dann pflegen sie sich nachher noch lange zu halten. Sie sagen mir in Ihrem Brief, daß Sie im letzten strengen Winter einige Akazien verloren haben, die Sie zum Schirm vor der Sonne in Ihrer Gartenstube hatten pflanzen lassen, und betrauern den Verlust der so schön herangewachsenen Bäume. Das glaube ich Ihnen gern und verstehe es ganz. Es ist nicht nur verdrießlich, Bäume zu verlieren, sondern es kann sogar schmerzlich sein, wenn man sich an einen Baum gewöhnt hat. Durch den Frost habe ich keinen Baum verloren, aber der Sturm hat mir eine Akazie entwurzelt und einen Ahorn gespalten. Beides waren alte, wunderschöne Bäume. Die Akazie habe ich nirgends größer gesehen. Sie hatte einen sehr dicken Stamm und weit verbreitete Äste. Im Grunde aber bleibt die Akazie selten

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