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Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt

Titel: Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Cotterill
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ungestümer.
    »Sie ziehen sich noch einen Splitter ein«, rief er. »Ich komme ja schon.«
    Als Civilai seine Verkleidung angelegt hatte, öffnete Siri die Tür und sah sich einer kleinen, hageren Frau um die dreißig gegenüber, die auf der Schwelle stand. Sie trug eine abgewetzte grüne Bluse und einen verwaschenen grünen phasin . Um ihr Gesicht zu verbergen, hielt sie den Kopf gesenkt, sodass Siri nur ihr lichtes Haar und ihren breiten, etwas schiefen Scheitel sehen konnte. Ihre wettergegerbten Hände umklammerten einen Stoffbeutel.
    »Sind Sie der Doktor aus Vientiane?«, fragte sie, ohne aufzublicken.
    »Ja. Was kann ich für Sie tun?«
    »Der dicke Polizist hat mich geschickt. Er hat gesagt, Sie kennen sich mit Leichen aus.«
    Siri trat zu ihr auf den Flur und zog die Tür hinter sich zu. Sie starrte immer noch zu Boden.
    »Es ist zwar sehr freundlich von Wachtmeister Tao, dass er Sie an mich verwiesen hat«, sagte er. »Aber eigentlich bin ich dienstlich im Süden und kann Ihnen deshalb leider nicht …«
    Sie hob den Kopf und sah ihm ins Gesicht. Ihre kummervollen Augen waren blutunterlaufen und geschwollen.
    »Aber es geht … um meinen Sohn.«
    »Was fehlt ihm denn?«
    »Er ist gestern Abend bei Si Phan Don aus dem Mekong gezogen worden. Er hatte sein Schulhemd mit dem Abzeichen an. Ich habe seinen Namen selbst hineingestickt.« Sie hielt einen Moment inne, um Atem zu holen. »Nur deshalb habe ich überhaupt davon erfahren. Ich hatte die ganze Woche nach ihm gesucht. Seit sich sein Vater aus dem Staub gemacht hat, ziehe ich ihn alleine groß, aber die Nachbarn haben mir suchen geholfen. Heute haben wir den Leichnam abgeholt. Und gleich gesehen, dass damit etwas nicht stimmt.«
    »Inwiefern?«
    »Wir leben am Fluss, Doktor. Wir sind Fischer. Sing, das ist mein Sohn, Sing konnte schon schwimmen, bevor er laufen konnte. Er kann unmöglich ertrunken sein.«
    »Unfälle passieren, Genossin. Selbst erfahrenen Schwimmern.«
    »Das hat die Polizei auch gesagt. Darum hat sie auch nichts unternommen. Aber an der Sache ist was faul, Doktor. Wenn ich davon überzeugt wäre, dass er ertrunken ist, könnte ich vielleicht damit leben. Aber ich weiß, dass ihm etwas anderes zugestoßen ist.«
    »Sie meinen, jemand hat ihm etwas angetan?«
    »Nein, nein. Aber, wie gesagt, wir leben am Fluss. Wir haben alle schon Leichen von Ertrunkenen gesehen, und das nicht zu knapp. Aber mein Sing … sieht nicht normal aus. Jedenfalls nicht für eine Wasserleiche.«
    »Und nun soll ich ihn mir mal anschauen.«
    »Wir … können Ihnen leider nicht viel zahlen.«
    »Wie wär’s mit ein paar frischen Fischen?«
    Sie verzog die Lippen zu einem schmalen Lächeln. »Wenn’s weiter nichts ist.«

10
DIE TEUFELSVAGINA
    Siri hatte seine alten Ledersandalen ausgezogen und stapfte barfuß durch die schlammigen Straßen. Zwei Mal schon war er ausgerutscht und, lachend wie ein Narr, auf seinem Hinterteil gelandet. Der dunstige Regen war fein und warm, ganz so, als hätte Gott geniest. Obwohl man ihn beim besten Willen nicht als Tropensturm bezeichnen konnte und er den Bauern wenig bringen würde, war es ein herrliches Gefühl, endlich wieder einmal besprengt zu werden. Alles schien in bester Ordnung.
    Der Wolkenbruch hatte eingesetzt, als er mit Daeng auf der Veranda ihrer bescheidenen Holzhütte gesessen und laotische Cocktails (halb Reiswhisky, halb Reiswhisky) geschlürft hatte. Sie betrachteten den Regen als Omen, als sicheres Indiz dafür, dass es mit ihrem Land bergauf ging. Sie hatten sich über die Zeit unterhalten, als Siri mit Boua nach Vietnam geflohen war. Er und Daeng hatten sich das letzte Mal im Sportstadion von Savannaketh gesehen, am 12. Oktober 1945. Ein Datum, dass die beiden so schnell nicht vergessen würden, war es doch der wahrscheinlich glücklichste Tag in der Geschichte des laotischen Volkes.
    Die japanische Besatzungsmacht hatte demonstriert, dass ein asiatisches Land es mit dem einst unbesiegbaren Westen aufnehmen konnte. Worauf die Laoten beschlossen, ihr Schicksal selber in die Hand zu nehmen. Die französischen Unterdrücker waren so sehr mit den europäischen Nachkriegswirren beschäftigt, dass sie den Kolonien darüber die Zügel schießen ließen, und an jenem glorreichen Tag im Stadion von Savannaketh hatte der Gouverneur an der Mittellinie des Fußballfeldes gestanden und Laos über ein wackliges Mikrofon zum unabhängigen Staat mit eigener Nationalversammlung ausgerufen. Der Jubel war bis nach Paris zu hören

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