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Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt

Titel: Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Cotterill
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verankert sein. Er richtete den Blick nach oben und sah die grelle Sonne am wolkenlosen Himmel hoch über der Wasseroberfläche. Links und rechts von ihm trieben geduldig zwei riesige Welse, wie Leibwächter.
    Nach einer Weile überholte sie eine Nixe. Sie drehte sich um und lächelte Siri zu, der vom herrlichen Anblick ihrer kugelrunden Brüste so gebannt war, dass er das Kind auf ihrem Rücken beinahe übersehen hätte. Der Junge hatte die Arme um ihren schlanken Hals geschlungen. Es war Sing, gesund, munter und glücklich wie ein Zehnjähriger auf einem Jahrmarktkarussell. Er und seine Nixe stoben davon und verschmolzen mit dem trüben Wasser. Weitere Nixen überholten Siri, sie alle hatten einen Menschen auf dem Rücken, und sie alle verschwanden flossenwedelnd in der Ferne, während Siri schwerfällig dahinstapfte, flankiert von seiner dickleibigen Ehrengarde.
    Als er aufwachte, war sein Bettlaken unangenehm feucht.
    Im Frühstücksraum des Hotels Pakxe konnte man hervorragend beisammensitzen und die Pläne des Tages besprechen. Nur frühstücken konnte man hier eigentlich nicht. Mit dem Kaffee hätte man eine Straße teeren können, die Nudeln waren lauwarme Schnürsenkel, und von da an ging es mit der Speisekarte rapide bergab. Civilai saß vor einer Tasse dünnem chinesischen Tee und trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. Er sah Siri die Treppe herunterkommen, als habe er mit diesem Wunderwerk der Baukunst gerade erst Bekanntschaft gemacht. Wie Civilai trug er eine dunkle Brille. Die Wendung »wenn ein Blinder den andern führt« kam dem Politbürokraten in den Sinn. Siri steuerte schwankend auf die Rezeption zu.
    »Hier drüben, Cousin«, rief Civilai.
    Siri war mit seinen neuen Augengläsern offenbar noch nicht vertraut, denn er kollidierte unsanft mit einem Betonpfeiler, bevor er auf Umwegen zum Tisch fand.
    »Bist du heute inkognito unterwegs?«, fragte Civilai.
    »Es ist das Licht«, sagte Siri. »Beim Aufwachen kam ich mir vor, als wäre ich mit einem Raumschiff auf der Sonne gelandet. Ich war wie geblendet. Es ist aber auch furchtbar grell heute, findest du nicht?«
    »Wir haben gestern Abend wohl ein paar über den Durst getrunken, wie?«
    »Du kennst mich doch, älterer Bruder, nur ein klitzekleiner Aperitif vor dem Essen.«
    »Ach ja? Und warum stehst du dann um diese Zeit erst auf?«
    »Ich schlafe eben langsamer als andere Menschen.«
    »Mal ehrlich. Um wieviel Uhr bist du hier eingetrudelt?«
    »Ich musste den Wachmann wecken, damit er mich hereinlässt. Am liebsten wäre ich schnurstracks in dein Zimmer gekommen.«
    »Ich bin ein verheirateter Mann.«
    »Wenn du erfährst, was ich herausgefunden habe, wirst du mich mit anderen Augen sehen.«
    »Das bezweifle ich, aber in meiner bitteren Not bin ich geneigt, dir fast alles zu glauben. Schieß los!«
    Siri wollte der Aufforderung eben nachkommen, als der Koch an ihren Tisch trat und sich erkundigte, was die Herren zum Frühstück zu speisen gedächten. Zu Civilais Enttäuschung bestellte Siri zwei Portionen Spiegeleier, Brot und Kaffee.
    »Heute brauchen wir etwas Anständiges im Magen«, sagte Siri.
    »Dann sollten wir vielleicht lieber woanders hingehen. Apropos woanders: Wie war dein Ausflug in das Fischerdorf?«
    »Teufel auch. Wie konnte ich das vergessen? Es war fantastisch. Die ganze Gemeinde trauerte um den Jungen. So etwas habe ich noch nie gesehen: eine wunderbare Atmosphäre, liebe, nette Menschen. Arm wie Flussschlamm und doch immer füreinander da. Weißt du noch, wie es früher auf dem Land zuging? Nein, wohl kaum. Als ich dort ankam, dachte ich natürlich, die Mutter hätte übertrieben. Ein ertrunkenes Kind ist ein ertrunkenes Kind. Aber nachdem ich die Leiche gesehen hatte, musste ich ihr beipflichten. Irgendetwas stimmte mit dem Jungen ganz und gar nicht.«
    »Inwiefern?«
    »Also, zunächst einmal deutete alles auf Ertrinken hin: Schaum in den Bronchien, Wasser in der Lunge. Für einen eindeutigen Befund hatte er allerdings zu lange im Wasser gelegen. Nein, das Merkwürdige waren die vielen Ungereimtheiten. Ich weiß gar nicht, wie ich es beschreiben soll. Er war quasi zweigeteilt. Als wäre die untere Körperhälfte schneller aufgeweicht als die obere.«
    »Das klingt nicht besonders logisch, Siri.«
    »Ich weiß. Ich begriff sofort, weshalb der Anblick die Fischer derart verwirrt hatte. Arme und Gesicht waren mit Mückenstichen übersät, die Beine hingegen schienen unversehrt. Die Splitter nicht zu

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