Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt
richtigen Ton. Er sagte, er sei endlich wieder stolz darauf, Laote zu sein. Trotzdem kroch er bei der erstbesten Gelegenheit ins warme Bett der Froschfresser zurück und vertrieb damit auch die allerletzten Patrioten aus seinem Reich. Dann hievten die Franzosen ihn auf den Stuhl des Premierministers und übergaben ihm ihre kleine Kolonie zu treuen Händen. Kurz darauf ließ er sich diese riesige, potthässliche Geburtstagstorte bauen, die er einen Palast schimpfte.«
»Und warum möchtest du dir ausgerechnet die anschauen?«
»Um mir ins Gedächtnis zu rufen, dass wir unser Leben für die Republik riskieren. Um zu sehen, wie seinesgleichen unser Geld verpulvert hat. Und um mir einen kleinen antikapitalistischen Adrenalinrausch zu verschaffen. Ich möchte diese Zeit um keinen Preis der Welt zurückhaben, älterer Bruder. Da, du machst schon wieder so ein nachdenkliches Gesicht. Das müssen wir ändern. Trink noch einen.«
Siri gab frische Eiswürfel in Civilais Glas und begoss sie mit Whisky.
»Und heute«, fuhr er fort, »sitzt er in seiner noblen Pariser Junggesellenbude, pflegt den luxuriösen Lebensstil Ludwigs XV . und schmeißt das Geld, das er mit der Verschleuderung unserer Kultur- und Bodenschätze verdient hat, mit vollen Händen zum Fenster hinaus. Er hat sich sogar meinen größten Traum erfüllt und frühstückt jeden Morgen mit Kaffee, Cognac und Blick auf die Seine.«
»Er wird dort aber nicht glücklich werden. Er wird verbittert sterben.«
»Soll das ein Witz sein? Er hat alles, was das Herz begehrt.«
»Das ist doch Unsinn, Siri. Er hat mitnichten alles, was das Herz begehrt. Respekt, zum Beispiel, bekommt er in Frankreich sicher nicht. Ganz gleich, mit wie viel Geld er um sich wirft. Dort ist er kein Gott auf Erden, sondern nur der komische alte Asiate aus dem Eckhaus. Du weißt doch, wie es dort zugeht, wie sie seinerzeit auf uns herabgesehen haben.«
»Sie hatten lediglich Mitleid mit uns, weil wir nicht als Weiße zur Welt gekommen sind. Das kann ich durchaus nachempfinden.«
»Siri, sie haben uns verachtet. Ich habe die Archive der ersten französischen Siedler durchgesehen. Dort ist von der ›laotischen Krankheit‹ die Rede. Sie glaubten, dass ein Franzose, wenn er sich nur lange genug hier aufhielt, genau so faul und lethargisch würde wie die Einheimischen. Sie hatten große Pläne und wollten Laos mit Vietnamesen bevölkern, weil die als die tüchtigeren Arbeiter galten. Für sie waren wir keine Menschen, sondern minderwertige Sklaven. Sie hassten uns, weil wir keine Lust hatten, ihnen die Drecksarbeit abzunehmen und sie reich zu machen. Sie wollten dem einen oder anderen Sohn aus besserem Hause eine Ausbildung ermöglichen, um ihn danach als Vorarbeiter oder Projektleiter einsetzen zu können. Als ich das las, musste ich lachen, bis mir klar wurde, dass sie damit niemand anderen meinten als mich. Sie haben mir nur deshalb eine Ausbildung angedeihen lassen, weil ich das faule Proletariat für sie auf Trab bringen sollte.«
Civilai redete sich in Rage. Seine Stimme schallte über den holzgetäfelten Flur bis hinaus auf die Straße und schreckte die samlor -Fahrer vor dem Hoteleingang aus ihrem Schlummer.
»In ihren Berichten schilderten sie uns als passiv«, fuhr er fort, »ohne aufständische Tendenzen. Na, denen haben wir’s vielleicht gezeigt. Wir haben ihre miesen Machenschaften durchschaut. Sämtliche Maßnahmen – die Alibi-Laoten in Führungspositionen, die Stipendien, die Missionsschulen, die Plantagen – dienten nur einem Zweck: uns möglichst arm zu halten und sie möglichst reich zu machen. Gott, wie habe ich sie dafür gehasst.«
Er knallte seinen Drink auf den klapprigen Sperrholztisch, wobei das Glas fein säuberlich zerbrach: in einen Serviettenring und eine kleine Petrischale. Der Whisky spritzte nach allen Seiten. Aus Civilais Finger quoll Blut.
»Scheiße.« Er betrachtete die Schweinerei und fing an zu lachen. »Ist zufällig ein Arzt im Haus?«
»Whisky ist ein Antiseptikum«, sagte Siri. »Das regelt sich von selbst.«
»Nicht, wenn ich vorher verblute.«
Civilai ballte die Faust und verschwand lachend im Bad. Er kam mit einem Stück Toilettenpapier wieder, das er um die Wunde wickelte, aus der reichlich dunkelrotes Blut floss. »Sie nannten uns die Lotophagen«, fuhr er fort und setzte sich wieder. »Wusstest du das? Die Lotosfresser. Wann hast du zuletzt Lotos gegessen?«
»Hm, da muss ich scharf nachdenken«, sagte Siri und blickte zu dem
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