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Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt

Titel: Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Cotterill
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verzerrten nordischen Hirschen hinter Glas. »Das ist schon ein Weilchen her. Dafür habe ich heute morgen ein Sträußchen Löwenzahn gefrühstückt.«
    »Das ist an Überheblichkeit wirklich nur schwer zu überbieten.« Civilai war derart aufgebracht, dass er Siri nicht mehr wahrnahm. »Lotosfresser! Wie die sich wohl vorgekommen wären, wenn wir sie Schneckenfresser geschimpft hätten?«
    »Ach, das war doch noch harm- …«
    »Und dann haben die verfluchten Royalisten sich mit ihnen gegen unsere eigenen Leute verbündet. Wie konnten sie nur?«
    Civilai saß jetzt auf der Bettkante. Ein Toilettenpapierbündel von den Ausmaßen Singapurs schloss sich um seinen verletzten Finger. Die leere Papprolle hielt er stolz in seiner unversehrten Hand. Siri war von den notärztlichen Fähigkeiten seines Freundes tief beeindruckt.
    »Aber du musst zugeben«, sagte Siri, »es gibt weitaus furchteinflößendere Gegner als die Königliche Laotische Armee.«
    Civilai lächelte. »Der Präsident hat immer gesagt: Die KLA machte weniger dem Feind als vielmehr ihren eigenen Kommandeuren angst und bange.«
    Über diese Anekdote hatten die beiden alten Kommunisten schon viele hundert Mal gelacht. Siri hatte noch eine auf Lager.
    »Wenn mich nicht alles täuscht«, sagte er, »warfen ihre paar Piloten ihre Bomben meilenweit von ihrem eigentlichen Ziel entfernt in den Fluss, damit sie nicht in die Nähe der Flugabwehrkanonen gerieten, und bescherten den Einheimischen so jedesmal einen Rekordfang an vorgekochtem Fisch.«
    Die Stimmung stieg, und lachend tauschten sie ihre liebsten KLA -Geschichten aus. Civilai trank seinen Whisky aus einer alten Teetasse, bis der Whisky alle war. Eine dritte Runde gab es nicht. Die trunkenen politischen Reminiszenzen hatten sowohl ihr Erinnerungsvermögen als auch ihren Verstand gründlich getrübt. Siri mäanderte zur Tür.
    »Ich gehe ins Bett.«
    »Vergiss das Beten nicht.«
    »Beten? Wofür soll man in einem Land ohne Religion und ohne Geld schon beten?«
    * * *
    Sie hatten natürlich ein Bußgeld zahlen müssen. Jeder thailändische Staatsdiener, der auf thailändischem Boden auf illegal eingewanderte Laoten stieß, war gesetzlich verpflichtet, sie in einem Lager abzuliefern. Nur ließ sich damit leider nichts verdienen. Und so gedieh entlang der Grenze ein blühendes Provisionsgeschäft. Wobei es nicht unbedingt von Nachteil war, dass die aktuelle Thai-Junta sich weigerte, die laotischen Flüchtlinge als solche anzuerkennen. Sie nannte sie »zeitweilige Besucher«, und als solche mussten sie die einschlägigen Einwanderungsbestimmungen erfüllen. Diejenigen ohne Visum (also alle) wurden mit einer Geldbuße belegt. Wenn sie solvent waren, wurden sie in die Lager eskortiert. Wenn sie die erforderliche Summe nicht aufbringen konnten, wurden ihre Namen an ein Lager weitergeleitet und dort an ein Schwarzes Brett geschlagen. Dann mussten ihre Freunde und Verwandten das nötige Geld zusammenkratzen, um die Strafe zu bezahlen. Wer weder Geld noch Freunde hatte, war für niemanden von Nutzen und wurde in der Regel unsanft ermutigt, sich dem Polizeigewahrsam zu entziehen und sich allein ins nächste Lager durchzuschlagen.
    Phosy und Dtui verbrachten nur eine Nacht auf der Polizeiwache in Bok. Sie konnten sich mit einem kleinen Goldarmband freikaufen, das Dtui bei sich hatte. Es sah sehr viel wertvoller aus, als es tatsächlich war. Und so brachte man sie tags darauf nach Ban Suan Lao, ein riesiges Flüchtlingslager am Nordrand von Ubon. Es war Dtuis erste Auslandsreise, und trotz der Ernsthaftigkeit ihrer Mission starrte sie gebannt durch den Lattenaufbau des Pritschenwagens, wie ein Kind in den Ferien. Sie fuhren direkt durch das Stadtzentrum, und obwohl Thailand eigentlich nichts weiter war als eine etwas wohlhabendere Variante von Laos, staunte sie nicht schlecht über die exotischen Ladenschilder und die schier unglaubliche Warenvielfalt. Sie bewunderte den dichten Verkehr, die ausländischen Autos, die hübschen Kleider der Mädchen, die über die gepflasterten Gehsteige stöckelten. An jeder Ecke gab es etwas zu essen, und alle paar Meter stieg ihr ein anderer Duft in die Nase: Brathähnchen, frisch gebackener Kuchen, aufgeschnittenes Obst auf Handkarren, Erdbeersirup auf geschabtem Eis. In Thailand herrschte ein ganz anderes Tempo, ein ganz anderes Flair, in das Dtui sich sofort verliebte.
    Phosy saß ihr gegenüber und sah die Begeisterung in ihren Augen. Sie hatte offensichtlich keinen Schimmer, wie

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