Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt
Pick-up, der sich ächzend und spotzend eine Schotterpiste entlangquälte. Er fuhr ohne Licht und steuerte den Wagen allein mit Hilfe der schummrigen Innenraumbeleuchtung über den schmalen Pfad. Er versuchte, Phosy einen Petroleumaufschlag abzuknöpfen, war jedoch nicht allzu hartnäckig und demnach auch nicht sonderlich enttäuscht, als Phosy ihm erklärte, er könne ihm den Buckel runterrutschen.
»Die Reichen stellen sich meistens nicht so an und zahlen«, sagte er. »Und fragen wird man ja wohl noch dürfen.«
Als sie auf eine asphaltierte Straße kamen, bog der Fahrer links ab und schaltete die Scheinwerfer ein. Sie spendeten nur unwesentlich mehr Licht als die Innenraumbeleuchtung. Nach einer Weile passierten sie einen Wegweiser mit der Aufschrift UBON RACHATHANEE 85 KILOMETER . Die meisten Laoten mit Schulbildung konnten Thaischrift lesen. Phosy wusste, dass der Fahrer nicht die Absicht hatte, sie nach Ubon zu bringen. Er fragte sich, wo er sie wohl absetzen und ihrem Schicksal überlassen werde, und die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Etwa fünf Kilometer weiter tauchte ein hell erleuchtetes Kontrollhäuschen der Grenzschutzpolizei aus der Dunkelheit auf. Ein rotes Schild mit der Aufschrift HALT! GRENZKONTROLLE ! ragte auf die Fahrbahn, und obwohl niemand in der Nähe war, der sie am Weiterfahren hinderte, ging der Cousin vom Gas.
»Was machst du denn da?«, fragte Phosy und streckte die Hand nach dem Schaltknüppel aus, doch der Wagen kam bereits zum Stehen.
»Immer mit der Ruhe, Bruder«, sagte der Cousin. »Keine Panik. Nur ein kurzer Zwischenstopp.«
Er rollte auf den gekiesten Vorplatz des Häuschens und hupte. Ein Mann mit einem Zahnstocher zwischen den lückenhaften Zähnen löste sich aus dem Schatten des Bretterverschlages. Im Vorbeigehen griff er hinein und förderte ein furchterregendes M-16-Sturmgewehr zutage. Ihm folgte ein zweiter Mann, in Uniform und mit geschultertem Karabiner. Sie schienen die Ruhe in Person. Eine ganz normale Nachtschicht, weiter nichts. Mit der Waffe im Anschlag traten sie ans Beifahrerfenster und bedeuteten den frisch eingetroffenen Flüchtlingen, aus dem Wagen zu steigen.
»Los, ihr beiden«, sagte er eine. »Und keine Sperenzchen. Ihr seid verhaftet. Hände hoch und raus.«
Der Mann leierte sein Sprüchlein vollkommen emotionslos herunter, woraus Dtui schloss, dass er diesen Vortrag jeden Abend hielt, und das vermutlich schon seit Monaten. Während Phosy und sie aus dem Pick-up kletterten, ging der zweite Wachmann um den Wagen herum zur Fahrerseite und reichte dem Cousin einen kleinen, braunen Umschlag durchs Fenster.
»Danke, Dim«, sagte er. »Was macht dein Weib?«
»Mir auf die Nerven gehen, wie immer.«
Dtui hörte die beiden lachen, während man sie und ihren »Mann« mit vorgehaltener Waffe in einen kleinen, dunklen Schuppen führte.
»Mist, du musst sie unbedingt aufhalten.«
»Wie denn? Als das Telegramm kam, waren sie schon weg.«
»Das ist doch Wahnsinn.«
Siri nickte lächelnd. »Aber haben wir nicht ganz ähnliche Dummheiten gemacht, als wir noch jung waren und voller Saft und Manneskraft? Ich kann eine gewisse Bewunderung für unsere Freunde nicht verhehlen.«
»Bewunderst du etwa auch den Mut der Motte, die in eine Kerzenflamme fliegt? Gott, Siri. Ich dachte, du magst die beiden.«
»Sicher doch. Und ich würde sie nur äußerst ungern verlieren. Aber da das Kind bereits im Brunnen liegt, hätte es wenig Sinn, sich deswegen zu grämen. Wenn wir an den Tatsachen schon nichts ändern können, sollten wir sie zu unserem Vorteil nutzen. Mit etwas Glück haben wir demnächst unsere eigenen Spione im Lager.«
»Wenn sie nicht unterwegs erschossen werden. Und falls ein Wunder geschieht und sie tatsächlich durchkommen, wie gedenkst du dann mit ihnen zu kommunizieren?«
»Ihnen wird schon etwas einfallen.«
»Für dich ist das Ganze wohl nichts weiter als ein großes Abenteuer, was?«
»Wäre es dir etwa lieber, wenn ich mich vor lauter Wut und Enttäuschung in ein nicht ganz so frühes Grab weine?«
»Am liebsten wäre es mir, wenn du die Situation ernst nehmen würdest.«
»Gibt es denn da einen Unterschied?«
»Einen ganz gewaltigen sogar. Da ich auf die Situation einwirken kann, nehme ich sie ernst. Du hingegen weißt, dass du nichts ausrichten kannst, also nimmst du sie auf die leichte Schulter. Das kann ich mir nicht leisten.«
Die Stille, die auf Civilais Bemerkung folgte, war alles andere als laotisch. Im Zimmer war kein
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