Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt
anscheinend schon das eine oder andere Fahrzeug an den Fluss verloren und hielt zwei Holzklötze bereit, die man unter die Vorderräder klemmen konnte, damit der Willys nicht rückwärts über Bord ging und im schlammigen Flusswasser versank. Siri und Civilai schüttelten ihm erleichtert die Hand.
Es war bereits Mittag, als der altersschwache schwarze Jeep in dem Örtchen Khong ankam, dem der Mekong seinen Namen verdankte. Neben seiner Mutter – oder Me – nahm sich die ohnehin recht kleine Stadt geradezu winzig aus. Majestätisch strömte der Mekong vorbei und schlug sein letztes Gefecht als Wasserlauf, bevor er von Si Phan Don – den Viertausend Inseln – in Stücke gerissen wurde und, auf ebenso wirren wie gewundenen Wegen, über die Khon-Phapeng-Fälle in die Tiefe stürzte. Nicht einmal den unerschrockenen Franzosen war es gelungen, diesen Hindernisparcours zu überwinden.
Hier endete die Schiffahrtsroute. Einst war Khong eine imposante Hafenstadt gewesen, wo Frachtschiffe ihre Ladung löschten und sie von Elefanten oder Eseln weiter nach Kambodscha transportieren ließen. Die Kolonisten hatten es sich nicht nehmen lassen, eine kurze Eisenbahnlinie zu bauen, um die Wasserfälle zu umgehen. Doch ihre Bemühungen hatten nichts gefruchtet. Die Gleise waren rostzerfressen und vom Dschungel überwuchert. Das heutige Khong war eine Ansammlung von Holzhütten, wo Fischer, Bootsführer und der eine oder andere verarmte Kaufmann ihr jämmerliches Dasein fristeten. Civilai entdeckte einen Stapel Bambusreusen, die zum Abbremsen bestens geeignet waren.
»Müssen wir unbedingt hier haltmachen?«, fragte er. »Ich dachte, wir wollten zu den Wasserfällen. Vergiss nicht, dass ich dieses Trumm auch wieder zurückfahren muss.«
»Wenn du dich ausruhen willst – ich fahre gern«, sagte Siri, der bislang erstaunliche Geduld mit dem fortwährenden Genörgel seines Freundes bewiesen hatte.
»Das soll wohl ein Witz sein. Ich weiß, wie viel Unheil du mit zwei Rädern stiften kannst. Mir graut bei dem Gedanken, welche Verwüstungen du mit vieren anrichten könntest.«
»Diese Rechnung wäre selbst eines Milchmädchens unwürdig. Autos sind bekanntlich sehr viel sicherer als Motorräder. Selbst wenn man sturzbetrunken ist, kann man damit nicht umfallen.«
»Ich sag’s ja. Also, hilf meinem Gedächtnis auf die Sprünge. Wir sind hier, weil …?«
»Weil ich nur rasch herausfinden möchte, wo genau sie den kleinen Sing aus dem Fluss gefischt haben.«
»Ich wusste doch, dass du etwas im Schilde führst. Ich hätte diesem Quatsch von wegen unserem südlaotischen Erbe und so weiter niemals glauben dürfen. Ich dachte, wir wären hier, um uns die antiken Khmer-Ruinen und die schlammbedeckte Hauptstadt des alten Königreiches anzuschauen, dabei hast du mich die ganze Zeit nur deshalb von einer Sehenswürdigkeit zur anderen gehetzt, damit du hierherkommen und dich als Wohltäter aufspielen konntest.«
»Nun tu mal nicht so. Es hat dir doch gefallen.«
»Unter anderen Umständen hätte es mir eventuell gefallen können.« Er stellte den Motor ab und kletterte aus dem Jeep. »Komm, bringen wir’s hinter uns.«
Sie fragten sich zu dem Fischer durch, der den Ertrunkenen aus seinem Netz gezogen hatte. Wie so viele vor ihm litt der Mann seitdem an schweren Depressionen. Ein Fluch, der sich nur dadurch bannen ließ, dass man tagelang seine Kinder anschrie und seine Frau schikanierte. Herr Keuk tat seit vier Tagen bittere Buße. Seine ledrige, schokoladenbraune Haut hing schlaff von seinen Knochen. Aus irgendeinem Grund nahm er den Besuch zweier alter Männer aus Vientiane als gutes Omen. Zum ersten Mal seit seiner grausigen Entdeckung erhob er sich von seiner Bambusliege, quetschte sich auf den Rücksitz des Jeeps und fuhr mit ihnen zu der kleinen, ihm zugewiesenen Parzelle am Ufer.
Es war eine simple Konstruktion. Die tiefen Nylonnetze waren zwischen zwei im Flussbett verankerten Bambuspfosten aufgespannt, sodass der Fisch quasi direkt ins Netz sauste wie ein Ball ins Fußballtor. Danach war er in der Regel zu traumatisiert, um gegen die Strömung zu schwimmen und sich zu befreien, und verhedderte sich stattdessen im Netz. Rings um die Inseln gab es so viele solcher Fallen, dass ein Fisch schon das Glück des Herrn Buddha höchstpersönlich hätte haben müssen, um nicht auf der Strecke zu bleiben.
Keuk brachte sie zu dem Netz, in dem Sings Leiche sich verfangen hatte. Es war gerissen und hing schlaff zwischen den beiden
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