Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt
Ich habe jemanden gebeten, sie im Auge zu behalten.«
»Ich wusste gar nicht, dass du auch in Ubon einen Kontaktmann hast.«
»Ich habe im Lager einen alten Kampfgenossen ausfindig gemacht, der mir heute Morgen Bescheid gegeben hat. Er passt ab sofort auf die beiden auf.«
»Welches Datum haben wir heute?«
»Ich bitte dich. Du warst drei Minuten unter Wasser, nicht drei Tage.«
»Nun sag schon.«
»Den sechsundzwanzigsten.«
»Dann bleiben uns nur noch vier Tage Zeit, um zu verhindern, was auch immer es zu verhindern gilt. Ich finde, es wird langsam Zeit, ein oder zwei Gänge höher zu schalten.«
»Siri. Ich möchte ja keineswegs herablassend klingen, aber auch wenn du dich dafür hältst – du bist nicht Bruce Lee. Sondern nur ein alter Knacker mit Flusswasser in der Lunge.«
»Schön, dass du dich der Herablassung so tapfer enthalten hast. Sonst wäre ich womöglich beleidigt.«
»Na gut. Sagen wir, in deinem derzeitigen Zustand bist du keine große Hilfe.«
»Ich werde morgen entlassen.«
»Wie schön. Dann können wir ja endlich den Tempel besichtigen. Oder möchtest du vielleicht doch lieber ins Museum?«
»Schon gut. Ich geb’s ja zu, unser kleiner Ausflug war keine besonders gute Idee. Aber es ist mir ernst. Wir machen Phosys Freund, den Soldaten, ausfindig und …«
»Ich höre immer ›wir‹. Siri, zerbrich dir nicht unnötig den Kopf. Ich habe alles fest im Griff. Gönn deiner Lunge etwas Ruhe. Geh deine Fischersfamilie besuchen. Löse dein Rätsel. Auf diesem Gebiet bist du Experte. Ich kümmere mich derweil um die Politik. Einverstanden?« Er stand auf und stellte eine Tüte mit Obst und Süßigkeiten auf den Stuhl. »Ich halte dich auf dem Laufenden, versprochen. Und guck nicht so böse. Du weißt genau, dass ich recht habe.«
»›Böse‹ ist auf meinem Planeten ein Fremdwort«, knurrte Siri.
»Braver Junge. Iss dein Obst.«
Civilai verschwand. Siri saß da und schmollte. Zwar hatte er diese Behandlung nach seinen chaplinesken Eskapaden der letzten achtundvierzig Stunden mehr als verdient, doch das änderte nichts an seinem Groll. Die Geschichte hatte sich wiederholt: Der große kommunistische Tyrann hatte den ehrlichen Kämpfer überwältigt. Siri öffnete die Tüte und begann mit der Banane. Er verzehrte sie mitsamt der Schale, nur um zu beweisen, dass er dazu in der Lage war. Wie nicht anders zu erwarten, schmeckte sie abscheulich.
»Möchtest du noch etwas, Liebling?«, flötete Dtui laut, damit die Nachbarn es auch hörten. Zum Glück hörten sie nicht, wie sie die Zunge herausstreckte und so tat, als würde sie in den Reistopf spucken.
»Gern, aber diesmal bitte nicht so salzig«, antwortete Phosy. Er hockte auf der Schwelle der hölzernen Veranda. »Gott, wie ich die Kochkünste meiner Mutter vermisse.«
Dtui lächelte, murmelte halblaut etwas vor sich hin und brachte ihrem Mann seine zweite Frühstücksportion. Sie beugte sich herunter, gab ihm auf und flüsterte ihm dabei etwas ins Ohr.
»Wissen Sie, wie die Thais unser Lager nennen?« Er schüttelte den Kopf. » Suan Lao . Auf Englisch: Lao Field. Ubon Lao Field. ULF – wie in dem Brief.«
»Dann sind wir hier ja offenbar goldrichtig.«
Als sie sich umdrehte und wieder hineingehen wollte, kniff er sie in den Hintern.
»Wenn du das noch einmal machst, werden sie dir schon die Hose ausziehen müssen, um an diesen Löffel ranzukommen.«
»Warum habe ich dich bloß geheiratet?«
»Weil dich sonst keine haben wollte.«
Ihr Frühsport wurde von einem kleinen Jungen unterbrochen, der in einem T-Shirt steckte, das ihm bis auf die Füße reichte. Er war ungefähr sechs.
»Sind Sie Phosy?«, fragte er mit krächzender Raucherstimme.
»Nein. Ich bin Herr Phosy.«
»Soll das ’n Witz sein?«
»Nein. Eine Lektion in Höflichkeit.«
»Wollen Sie den Brief nun haben oder nicht?«
Phosy sah nach links und rechts und nickte dann. Der Junge lupfte sein T-Shirt ein wenig, und ein Zettel fiel heraus. Er beförderte ihn mit einem gezielten Tritt in Richtung Vortreppe und rannte davon. Phosy stellte seinen Teller ab, klaubte seine Tasse, die Überreste einer Orange und den Zettel zusammen und ging hinein. Dtui blätterte in einer thailändischen Illustrierten.
»Wer war das?«
»Nur ein kleiner Junge, der wissen wollte, ob er sich fünf Baht verdienen kann.« Er hielt den Zettel in die Höhe, und sie trat neben ihn und las:
Lieber Phosy,
der Sportausschuss hat Deinen Antrag auf ein Probetraining mit der
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