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Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt

Titel: Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Cotterill
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gesammelten Beweise persönlich in Augenschein nehmen wollte.
    Erleichtert kam Dtui auf das Transportproblem zu sprechen. Bruder Fred hatte zwar nicht die Absicht, ihnen den kircheneigenen Geländewagen zu überlassen, erklärte sich jedoch gern bereit, sie zu fahren. Der weiße Land Rover, auf dessen Türen ein Bild des gütigen, von indonesischen Kindern umringten Herrn Jesus prangte, passierte die Lagergrenze etwa zwanzig Mal am Tag. Die Wachtposten an der stets geöffneten Schranke ließen sich davon nicht aus der Ruhe bringen und warfen bestenfalls einen flüchtigen Blick auf das Fahrzeug. Wenn zwei Laoten auf dem Rücksitz saßen, hatte das schon seine Richtigkeit.
    Sie kamen ungehindert voran und waren nach zehn Minuten in der Stadt. Dtui konnte sich an diesem märchenhaften Ort kaum sattsehen und fragte sich, warum sie nicht auf dieser Seite des Mekong zur Welt gekommen war. Im Stadtzentrum gab es öffentliche Telefonzellen, wie sie sie aus den Super-8-Filmen über Moskau kannte. Selbst die Imbissstände, die frittierte Grashüpfer feilboten, erschienen ihr ungemein exotisch. Als sie an der Pädagogischen Hochschule vorbeifuhren, drückte Phosy zärtlich ihre Hand. Ihre Freude war schnell verflogen, als ihr klar wurde, dass es sich um das verabredete Zeichen handelte.
    »Oh, Bruder Fred«, stieß sie stöhnend hervor. Der junge Mann starrte in den Spiegel und riss vor Schreck die Augen auf.
    »Was ist?«, fragte er.
    »Ich muss mich übergeben.« Da ihre Aussprache den Priester vor ein Rätsel stellte, schob sie sich den Finger in den Hals und würgte.
    »Aber nicht in meinem Dienstwagen.« Er fuhr rechts ran und trat auf die Bremse. Das Auto kam schlitternd zum Stehen. Dtui sprang hinaus, lief zehn Meter zurück und tat, als müsse sie sich mehrmals erbrechen. Bruder Fred beobachtete sie im Außenspiegel. Weshalb ihm nicht entging, wie Dtui zu schlechter Letzt theatralisch auf das Pflaster sank.
    »O Gott. Um Himmels willen, sehen Sie!«
    Phosy lächelte das Lächeln eines Flüchtlings, der in einer Sprache angebrüllt wird, die er nicht versteht. Der Priester schrie und fuchtelte wild mit den Armen, doch da Phosy sich nicht von der Stelle rührte und unbeirrt auf das Wagendach starrte, blieb Bruder Fred nichts anderes übrig, als aus dem im Leerlauf vor sich hin tuckernden Wagen zu springen, um der armen Frau zu helfen. Was für ein Tag. Himmel und Hölle hatten sich gegen ihn verbündet, und Gott stellte ihn auf eine harte Probe. In diesem Fall war seine Wanderung durchs tiefe Tal mit Sicherheit noch lange nicht zu Ende.
    Fred ging neben Dtui auf die Knie, doch sie reagierte nicht. Er wusste weder, wo er ihren Puls zu suchen hatte, noch, was er damit anfangen sollte, falls er ihn zufällig fand. Da plötzlich fuhr sein Geländewagen ohne ihn los. Er wendete mit quietschenden Reifen, raste fünfzig Meter in die entgegengesetzte Richtung und verschwand in einer Seitenstraße. Er sandte ein stilles Stoßgebet gen Himmel: »O Herr, warum hast du mich verlassen?« Er wusste nicht, wo ihm der Kopf stand – eine sterbende Frau, ein gestohlener Wagen, ein internationaler Zwischenfall. Er musste an die Worte denken, mit denen er dem heimischen County Colraine und seiner schluchzenden Mutter den Rücken gekehrt hatte: Er wolle nur ein paar aufregende Jahre im Ausland verbringen. Was natürlich nicht stimmte. Er war ein braver Kirchendiener. Wenn ihm tatsächlich nach Aufregung zumute gewesen wäre, hätte er sich auch der IRA anschließen können. Er hatte geglaubt, Thailand sei ein heißes, ödes Land. Und heiß war es hier in der Tat.
    Es waren nicht allzu viele Leute in der Nähe, und die machten wohlweislich einen großen Bogen um den ausländischen Teufel mit Stehkragen, der sich über ein totes Mädchen beugte. Er wollte, er hätte sich verständlich machen können, aber er sprach leider kein Wort Thai. Da fiel ihm das Schild vor der Pädagogischen Hochschule ein. Dort sprach doch sicher jemand Englisch. Und es gab bestimmt auch ein Telefon, wenn nicht sogar eine Krankenschwester. Nachdem er flüchtig mit dem Gedanken gespielt hatte, Dtui zur Hochschule zu tragen, beschloss er, sie liegen zu lassen, und rannte davon.
    Als er das Tor der Hochschule aufstieß, schoss ein weißer Land Rover mit Herr-Jesu-Türen an ihm vorbei. Der Fahrer winkte. Er winkte instinktiv zurück.

19
MIT HALBEM OHR
    Siri und Wachtmeister Tao klopften an das hölzerne Portal von Prinz Boun Oums unvollendetem Palast, obwohl sie wussten,

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