Briefe aus dem Gefaengnis
neun Jahren Lagerhaft verurteilt; die Strafe wird von einem Revisionsgericht dann um ein Jahr verkürzt. Als wollte die Staatsmacht den einst so Reichen und Mächtigen auch körperlich so weit weg wie möglich schieben, nach alter zaristischer Tradition in den letzten Winkel des Reiches verbannen, muss er seine Strafe in Sibirien verbüßen; zunächst im Straflager von Krasnokamensk, dann im trostlosen Tschita, ganz in der Nähe der chinesischen Grenze. Jukos wird zerschlagen.
Machtpolitisch hat Putin einen Sieg auf der ganzen Linie errungen, gewinnt auch die anstehenden Wahlen klar. Er hat zu Recht kalkuliert, dass weite Kreise der russische Öffentlichkeit den tiefen Sturz eines Oligarchen mit klammheimlicher Freude verfolgen würden.
International macht ihm freilich schon dieser erste Prozess gegen Chodorkowski Ärger. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg befasst sich mit dem Fall; westliche Politiker verurteilen das, was sie als »Willkürjustiz« erkannt haben. Und wenn der Herr des Kremls gedacht haben sollte, dass er MBC nicht nur kalt –, sondern auch ruhig gestellt hätte, erwies sich das schon bald als Fehlkalkulation. Der Gefangene verzweifelt nicht, er fleht nicht um Gnade, er verflucht seine Verfolger nicht. Er denkt. Er bildet sich fort. Er schreibt.
»Es geht mir persönlich besser, je härter die äußeren Umstände sind. Am angenehmsten ist es in der Isolationshaft, wo man den direkten unmittelbaren Widerstand gegen eine gegnerische Kraft spürt. Unter normalen Umständen ist die Mobilisierung schwieriger«, notiert er in seinen von Anwälten und Familienmitgliedern in die »Außenwelt« geschmuggelten
Notizen. Sie sind auf den kommenden Seiten ebenso wiedergegeben wie seine Korrespondenz mit liberalen russischen Intellektuellen, die ihn bald als einen der Ihren akzeptieren: als Konvertit zum Guten. Dass die Staatsmacht diese Meinungsäußerungen nicht unterbindet, zeigt, dass Russland bei allen zunehmend autoritären Strukturen eben doch noch eine Zivilgesellschaft besitzt und die unabhängige Presse längst nicht ganz mundtot gemacht worden ist.
»Sehr geehrter Wladimir Wladimirowitsch, Sie sind ein äußerst erfolgreicher Führer, der die größte Errungenschaft des modernen Russland bewahrt hat – den hohen Ölpreis. Sie sind ein wunderbarer Freund: Sie riskieren den eigenen Ruf für Ihre Freunde, die Jukos zerstört haben, obwohl es das erfolgreichste Unternehmen des Landes war«, schreibt Chodorkowski aus dem Kerker an seinen übermächtigen Gegenspieler im Kreml. »Sie besitzen fast alles. Deshalb wünsche ich Ihnen zum Geburtstag das Einzige, was Ihnen fehlt: Freiheit und Ruhe. Beides werden Sie bekommen, wenn Sie Ihre unglückselige Amtszeit beenden.« Den sarkastischen Brief hat die Moskauer Zeitung »Kommersant« im Oktober 2005 veröffentlicht – in Stalins, wohl auch noch in Chruschtschows und Breshnews Zeiten hätten Verfasser und Verbreiter wohl mit ihrem Leben bezahlt.
Das Gefängnis als Bildungsanstalt, die Haft als Charakterprüfung – russische Persönlichkeiten unterschiedlichster Couleur, von den Dekabristen des 19. Jahrhunderts über die Kommunisten des frühen 20. Jahrhunderts wie Lenin und Trotzki bis zu den Sowjet-Dissidenten wie Sacharow und Solshenizyn haben Gitterstäbe nicht als einengende Begrenzung verstanden, sondern durchaus auch als erweiternde
Erfahrung. Chodorkowskis unbeugsame Haltung imponiert vielen und hat ihm sicher schon in den ersten sieben Gefängnisjahren unter der Intelligenzija Anerkennung eingebracht. Diese Haltung bringt ihm auch die Aufmerksamkeit – und die Bereitschaft zum Zuhören – all derjenigen ein, die immer große Vorbehalte gegenüber Oligarchen und deren oft mehr als ruppigen Geschäftspraktiken hatten.
In seinem bisher letzten Interview mit dem »Spiegel«, zustande gekommen Mitte August 2010 in einem schwierigen Prozedere auf Umwegen eingereichter Fragen und erhaltener Antworten, betont Chodorkowski, er wolle kein Märtyrer sein, er liebe solche Stereotypen nicht. Ambitionen auf das Präsidentenamt verwirft er – offensichtlich nicht, weil er sich das nicht zutraute, sondern aus ganz pragmatischen, nüchternen Gründen: »In Russland wird niemand einen Menschen jüdischer Abstammung als einen ernsthaften Konkurrenten in dieser Frage ansehen, das ist eine Binsenweisheit. Ich habe auch niemals einen solchen Wunsch geäußert, ich bin doch kein Narr.« Und der Mann, der kein Revolutionär sein
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