Briefe aus dem Gefaengnis
Fülle schwerster Verletzungen des Strafrechts, Widersprüchlichkeit, Bösartigkeit«. Das vernichtende Fazit: »Ein bestürzendes Dokument von Zynismus in der russischen Justiz, weil es den willkürlichen Umgang mit dem Gesetz und die böswillige Verdrehung des Rechts kaum noch verschleiert. «
Die geringen Hoffnungen Chodorkowskis konzentrierten sich während des Prozesses – und konzentrieren sich in geringerem Maß auch heute noch – auf Präsident Dmitri Medwedew, als ehemaliger Chef des Gasprom-Konzerns ein Wirtschaftsfachmann und darüber hinaus ein in Zivilrecht promovierter Jurist. Immer wieder hat Medwedew nach seinem Amtsantritt im Mai 2008 öffentlich über die Defizite der russischen Demokratie gesprochen. Er wagte sich in die Redaktion der oppositionellen Tageszeitung »Nowaja Gaseta«, legte sein Veto gegen ein Gesetz ein, das die Versammlungsfreiheit weiter eingeschränkt hätte.
Und manchmal formuliert er geradezu mit der Schärfe eines Dissidenten: Russland müsse den »Rechtsnihilismus« bekämpfen und die Zivilgesellschaft fördern. »Nur freie Menschen können die Modernisierung vorantreiben. Aber den großen Worten sind bis jetzt wenige Taten gefolgt. Medwedew gilt in der russischen ›Tandemokratie‹
als der schwache, zögerliche Beifahrer gegenüber dem ›Alpha-Rüden Putin‹« (so auch die Einschätzung der in Moskau stationierten US-Diplomaten laut einer jetzt enthüllten geheimen Botschaftsdepesche an das State Department). Einen milden Tadel äußerte Medwedew zwar in Richtung seines übermächtigen Partners, man dürfe ein Urteil nicht vorwegnehmen; aber dann – nichts. Medwedew stünde ihm zwar näher als Putin, sagt Chodorkowski heute, er sei ein politischer Pragmatiker und seine Vorstellungswelt vereinbar mit wahren demokratischen Vorstellungen, doch man müsse zwischen Versprechungen und Taten unterscheiden: »Ich bin enttäuscht von Medwedew.«
Dabei gäbe es für die – formale – Nummer eins im Staat ein berühmtes Handlungsvorbild. Er könnte in der Causa Chodorkowski so verfahren wie es einst KP-Generalsekretär Michail Gorbatschow in einem vergleichbaren Fall tat. Der hat im Dezember 1986 einen berühmten Verbannten von seinem Schicksal erlöst. Sieben Jahre lang saß der Atomwissenschaftler und Bürgerrechtler Andrej Sacharow nach seiner Verschleppung unter verschärftem Hausarrest in der damals weitgehend isolierten und für Ausländer gesperrten Stadt Gorki (dem heutigen Nishni Nowgorod). Der Kreml-Chef griff selbst zum Telefon, um dem Dissidenten seine Entscheidung zu verkünden: Freilassung, ohne jede Auflage, anschließend politische Rehabilitierung. Sacharow fühlte sich wie Chodorkowski zuallererst als russischer Patriot; er hatte freilich einen geradlinigeren, untadeligeren Lebensweg als MBC. Ein Held ganz ohne Schatten.
Wie immer die Geschichte einst diesen Michail Borissowitsch Chodorkowski beurteilen mag, sein Plädoyer zwischen Zolas »Ich klage an« und Castros »Die Geschichte
wird mich freisprechen« – eines ist heute schon sicher: Er hat es geschafft, dass die heutigen russischen Politiker, Philosophen und Literaten Farbe bekannten. Putin hat sich im Brennglas des Oligarchen-Falls nun zweifelsfrei für alle als der wahre starke Mann des Landes herauskristallisiert – und als rücksichtsloser, sich zur Not auch über Gesetze erhebender Machtpolitiker. Medwedew steht als zwar wohlmeinender, aber zaudernder und fast ohnmächtiger Hilfssheriff da (wenngleich noch nicht alle, selbst MBC nicht, die Hoffnung auf einen mutigen Schritt des Präsidenten in Sachen Amnestie aufgegeben haben).
Regierungskritische Beobachter vermuten auch, dass eine neue Kampagne gegen den Ex-Oligarchen auf das Konto Putin-naher Kreise geht. Über Internet wird ein 50-minütiger Film verbreitet, der ein extrem negatives Bild zeichnet. »Chodorkowski. Truby« heißt der polemische Streifen; nach einigen Sekunden schiebt sich ein roter Balken in das weiße »b« und der Buchstabe wird durch ein »p« ersetzt – Truby heißt soviel wie »Pipeline«, Trupy bedeutet »Leichen«. Der Mann ist ein Mörder, soll suggeriert werden. Wie empfindlich andererseits Kreml-Fans reagieren, wenn sie glauben, der Putin-Gegner würde zu positiv dargestellt, hat sich bei der Berlinale gezeigt. Die Produktionsfirma des Regisseurs Cyril Tuschi teilte mit, zwei PC und zwei Laptops seien in Berlin gestohlen worden, auf denen die Endfassung des Dokumentarfilmporträts Chodorkowskis gespeichert
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