Briefe aus dem Gefaengnis
will, plädiert für einen starken Staat – »das müssten effektiv arbeitende demokratische Institutionen sein: unabhängige Gerichte, ein selbstbewusstes Parlament mit Fachleuten, eine einflussreiche Opposition, ehrliche Wahlen, eine entwickelte Bürgergesellschaft und unabhängige Massenmedien«.
An einem der bitterkalten Dezembertage 2010 sehe ich dann Michail Borissowitsch Chodorkowski ein – vorläufig – letztes Mal: Moskau 7, Rostowski-Gasse, Chamownitscheski-Bezirksgericht. Es ist sein zweiter Prozess, er steht
in seinem Glaskäfig, wie immer, auf der Zuschauertribüne die üblichen Verdächtigen: seine Mutter Marina Filipowna, bedrückt und verhutzelt; Vater Boris Moissejewitsch, fahl, grau und in sich zusammengefallen; die abgespannt wirkende Ehefrau Inna, die nur noch selten kommt, weil sie das alles nicht mehr ertragen kann und so viel Lebensmut verloren hat seit damals, seit dem ersten Prozess, als sie darauf bestand, ihrem Mann in die sibirische Verbannung nachzufahren, so wie es einst Maria im Jahr 1826 tat, die Gattin des Reformer-Fürsten Sergej Wolinski; und anwesend vor Gericht sind auch einige der treuen ehemaligen Jukos-Angestellten, seit Jahren arbeitslos und ebenso verfemt wie ihr ehemaliger Chef; Bürgerrechts-Aktivistinnen, in die Jahre gekommen und stämmig, aber zur Feier des Gerichtstages sorgfältig hergerichtet und mit blutrot geschminkten Lippen.
Es ist eine fast rührende Fan-Gemeinde. Eine verschworene Sippe, man tauscht Notizen aus, Plakate und Bilder. Fast wäre man versucht zu sagen: ein Kaffeekränzchen. Aber dazu ist die Umgebung und die Sache zu ernst, und sobald der Richter den Saal betritt, erstirbt auch das freundschaftliche Geraune. Selten übrigens kommt eines der vier Chodorkowski-Kinder in den Gerichtssaal, wie es heißt, auf ausdrücklichen Wunsch des Angeklagten, der seine Familie herauszuhalten versucht. Besonders seit bekannt wurde, dass der Geheimdienst FSB sogar die Schulfreundinnen seiner Tochter ausspioniert hat.
Gerade hat Wladimir Putin – längst nicht mehr Präsident, aber nun als Premier der starke Mann – über seinen Widersacher öffentlich gelästert. Bei einem Fernsehauftritt elf Tage vor der Urteilsverkündung hat er in einer Fernsehsendung
vor 30 Millionen Zuschauern sein Verdikt schon gesprochen. Chodorkowski habe »Blut an den Händen«, er sei ein »Dieb«, und so einer »muss im Gefängnis sitzen, seine Verbrechen sind bewiesen«. Putin, selbst Absolvent der Leningrader Rechtsfakultät, verletzt mit dieser eklatanten Vorverurteilung die elementarsten Regeln des Rechtsstaats – offensichtlich glaubt er, über dem Gesetz zu stehen.
Chodorkowski nimmt das Gericht ernst. Seine Mutter sagt, die Haft habe ihren Sohn »weicher und weiser« gemacht. Er sagt mit dezidiertem Nicht-Pathos erstaunliche Sätze, wie: »Wenn mein Land meine professionellen Fähigkeiten noch einmal benötigen sollte, auch wenn es mein Leben haben wollte, es kann alles haben. Ich bin Russe, und so denken wir Russen.« Oder: »Die autoritären Mächte wollen an mir ein Exempel statuieren, um so andere einzuschüchtern. So wie bei einer öffentlichen Hinrichtung. Aber diese Form der öffentlichen Abrechnung hat auch eine Kehrseite – sie verwandelt einen gewöhnlichen Menschen wie mich in ein Symbol.« Der Richter, merkt MBC an, habe ihm während des ganzen Verfahrens leidgetan. Danilkin sei offensichtlich ein anständiger Mensch und habe »Anzeichen eines Gewissens« und sogar Verständnis gezeigt. Aber er werde letztlich nicht anders können, als ein von oben verordnetes, vom Kreml formuliertes Urteil zu verlesen.
Und so kommt es. Der Angeklagte macht sich später in einem Schreiben über den Schuldspruch lustig. »Absurd« nennt er ihn. Aber wichtiger als Chodorkowskis eigene Auffassung in dieser Sache ist die internationaler Experten. Sie sind sich einig, einem politischen Schauprozess beigewohnt zu haben. Detailliert belegt beispielsweise eine Untersuchung des angesehenen Juraprofessors Otto Luchterhandt
von der Universität Hamburg den »Rechtsnihilismus«. Im Detail: »Das Urteil ist zutiefst ungerecht und hat zu Recht weltweit scharfe Kritik erfahren. Es verstößt erstens gegen justizielle Grundprinzipien des Rechtsstaates (Art. 1 Verfassung Russlands). Zweitens ist es auch deswegen krass rechtswidrig, weil es die Angeklagten (Chodorkoswki und Lebedew) wegen Straftaten verurteilt, die sie nicht begangen haben (können).« Der deutsche Experte konstatiert »eine
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