Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Briefe aus dem Gefaengnis

Briefe aus dem Gefaengnis

Titel: Briefe aus dem Gefaengnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Chodorkowski
Vom Netzwerk:
betrifft, auch seine Probleme sind klar. Dass er der Obrigkeit nicht widersprochen hat, sondern im Gericht Lügen frei erfand (was ich dort zur Sprache gebracht habe), ist leider eine zwingende Folge des Systems wechselseitiger Bürgschaft, dessen Teil er ist. Man versucht es jetzt ein wenig aufzubrechen, und auch innerhalb der Staatsanwaltschaft gibt es viele, die unabhängig sein wollen und es dank ihrer Bildung, Gefragtheit und fehlendem kompromittierendem Material auch sein können. Viele, aber nicht alle. Die heutige Nomenklatura nutzt den Einsatz von kompromittierendem Material, um jemanden, der »aufmuckt«, zu vernichten.
Ob das gut ist? Nein, natürlich ist das ekelhaft. Es kommt zum Aufstieg derjenigen, die am meisten Dreck am Stecken haben und die dann ihre verzerrten moralischen Prinzipien »nach unten« und in die Gesellschaft projizieren. Aber warum von ihnen sprechen? Es sind armselige, unglückliche Menschen, die im Alter Angst vor dem Tod haben werden. Was mich im Gericht erstaunt hat, ist etwas anderes. Die Anklage hat mehr als anderthalb Tausend Menschen vernommen. Viele unter der Drohung, sie würden angeklagt (was mit einigen auch geschah). Für den Prozess wurden etwas über achtzig ausgewählt. Und diese Menschen, die berechtigterweise um ihr Schicksal fürchteten, haben sich nicht einschüchtern lassen. Keiner, ich unterstreiche: nicht ein einziger hat gegen Platon und mich ausgesagt. Einige haben uns sogar verteidigt. Dabei handelte es sich doch um Zeugen der Anklage, das heißt solche, die sich von uns übervorteilt hätten fühlen können. Ich kann Anatoli Posdnjakow, den früheren Direktor der Firma Apatit, Jewgeni Komarow, den früheren Gouverneur der Region Murmansk, und Dutzende anderer nicht unerwähnt lassen, die sich trotz des außerordentlichen Drucks geweigert haben, ihr Gewissen zu verraten. Übrigens waren darunter auch Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft, die sich weigerten, auf Befehl ihrer Vorgesetzten zu lügen (ich weiß nicht, ob es angebracht ist, hier Namen zu nennen). Doch, wir leben in einem ganz anderen Land. Es gibt zwar noch genug Schweine, aber es gibt inzwischen mehr Bürger, echte Bürger, und der Prozess der Verwandlung der Menge in eine Gemeinschaft von Mitbürgern schreitet voran. Putins größter Fehler ist, dass er diesen Prozess, den Prozess der Ausbildung der Zivilgesellschaft, freiwillig oder unfreiwillig gebremst
hat. Es gibt jetzt Hoffnungen auf eine Erneuerung dieses Verwandlungsprozesses, was mich glücklich macht.
    Akunin: Warum waren Sie überhaupt bereit, sich an diesem Prozess, dieser notorischen Verkehrung jeder Rechtsprechung, zu beteiligen? Wäre es nicht richtiger gewesen, von vorneherein zu erklären: »Machen Sie mit mir, was Sie wollen, ich glaube nicht an die Objektivität Ihres Gerichts und habe nicht vor, dabei mitzuspielen.« Oder hatten Sie irgendwelche Illusionen?
    Chodorkowski: Sie werden lachen, ich war recht naiv. Das heißt, ich hatte keine Zweifel daran, dass mich die Staatsanwaltschaft lange im Gefängnis halten kann, aber ich konnte fast bis zum Schluss nicht glauben, dass das Gericht ohne Beweise und, was die Hauptsache ist, gegen die offensichtlichen Fakten einen Schuldspruch fällen kann, zumal in einem offenen Prozess. Ich dachte, es handelt sich immerhin um ein Gericht, es kann und wird natürlich den Anklägern nach dem Munde reden, aber es kann doch nicht eindeutig das Gesetz verletzen… Es stellte sich heraus: und wie es das kann! Zunächst verlief noch alles recht anständig, aber Anfang 2005 wurde mir klar, ich beiße auf Granit. Aber da waren immer noch die öffentliche Meinung, die Investoren, meine Kollegen, die Mitarbeiter des Konzerns. Ihnen gegenüber hielt ich es für meine Pflicht, zu erklären, dass sie nicht in einer Verbrecherclique, sondern in einem normalen Konzern gearbeitet hatten, der zwischen die Mühlsteine der Politik geraten war und nun beschuldigt wurde, Verbrechen begangen zu haben, die es gar nicht gegeben hatte. Und aus der Tatsache, dass alle Mitarbeiter von Jukos heute sowohl bei uns als auch im Ausland liebend gern eingestellt werden, schließe ich, dass mir das auch gelungen ist.

    Akunin: Gehen wir zeitlich ein wenig zurück. Zu dem Zeitpunkt, da die Obrigkeit die endgültige Entscheidung traf, Sie ins Gefängnis zu werfen. Mit wem auch immer ich in den letzten Jahren über dieses Thema gesprochen habe, alle fragten sich und fragen sich noch heute: Was war der wahre Grund für den

Weitere Kostenlose Bücher