Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Briefe aus dem Gefaengnis

Briefe aus dem Gefaengnis

Titel: Briefe aus dem Gefaengnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Chodorkowski
Vom Netzwerk:
Und was am interessantesten war, ich wurde sogar eingeladen, diesen Vortrag an einer Militärschule zu halten. Ich dachte, die jagen mich zum Teufel. Aber ich sprach fast drei Stunden, es wurden Fragen gestellt, auf die ich antwortete. Der Vortrag kam gut an. Vielleicht war dieser Auftritt an der Militärschule der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Gleich danach ging in meinem Büro eine Vorladung ein. Ich sprach noch auf einem Forum von Menschenrechtlern in Irkutsk. Von dieser Reise kehrte ich unter Bewachung zurück, mit einem Spezialflugzeug des Geheimdiensts. Ich neige nicht zur Hysterie und wollte die Situation nicht dramatisieren. Meine Frau und meine Eltern verfolgten natürlich das Fernsehprogramm, aber wir unterhielten uns nicht darüber, was passieren könnte. Das war überflüssig. Es war für alle auch so alles klar, und jeder tat, was er konnte. Es war einfach eine der vielen Schlachten, aus der ich nicht hätte zurückkehren können. Und bis heute bin ich nicht daraus zurückgekehrt. Wir wussten, es würde hart werden, aber in Wirklichkeit wurde es weitaus härter. Täglich Verleumdungen auf allen Fernsehkanälen. Unterbindung aller Kontakte. Das erste Treffen hinter Gittern… Das ganze Jahr 2004 betete ich eigentlich nur darum, dass sie durchhalten. Wenn auch noch die Familie zerbrochen wäre, das wäre einfach entsetzlich gewesen.
Vor der Haft war mir das noch nicht so bewusst, aber jetzt ist mir das klar. Wenn mit meiner Familie etwas passiert wäre, hätte ich für nichts garantieren können. Aber sie haben durchgehalten. Vielleicht auch weil sie enorme Unterstützung von anständigen Menschen erfahren haben, es kamen Briefe mit Zuspruch, sie wurden von Unbekannten auf der Straße angesprochen, und unsere Kinder wurden in der Schule und im Kindergarten gut behandelt. Man kann sagen, was man will, aber ich liebe mein Land und mein Moskau. Von außen wirkt es wie ein riesiges gleichgültiges Ameisengewimmel, aber es gibt bei den Menschen so viel Anteilnahme … Wissen Sie, ich habe diesen Menschen innerlich immer vertraut, aber sie haben meine Erwartungen noch übertroffen. Und meine Familie… Natürlich ist das alles nicht so einfach, aber ich bin glücklich, dass ich sie habe. Erinnern Sie sich an das Lied: »Mir reichte, dass der Nagel, den ich einschlug, eine winzige Spur hinterließ?« Da habe ich es entschieden besser. Meine Familie steht immer hinter mir. Und nicht nur sie. Vor über zwanzig Jahren habe ich mich von meiner ersten Frau getrennt. Mein Sohn Pavel ist inzwischen erwachsen, hat studiert und ist berufstätig. Er, meine Exfrau und ihre Mutter, sie haben mir all diese Jahre geschrieben und mich und meine Eltern unterstützt. Ich habe Glück mit den Menschen.
    Akunin: Im Dezember 2004 haben Sie geschrieben: »Mir war schon bewusst, dass Eigentum an und für sich, besonders großes Eigentum, den Menschen keineswegs frei macht. Als Miteigentümer von Jukos habe ich enorme Kraft darauf verwenden müssen, dieses Eigentum zu verteidigen. Ich musste mich in allem einschränken, was diesem Eigentum hätte schaden können. Nun bin ich in eine andere
Phase eingetreten. In wirtschaftlicher Hinsicht durchaus ein Vertreter des wohlhabenden Teils der Mittelschicht, bin ich jetzt ein gewöhnlicher Mensch geworden, für den es nicht auf das Haben, sondern auf das Sein ankommt. Und das besteht nicht im Kampf um ein Vermögen, sondern im Kampf um das, was dich ausmacht, um das Recht auf eine eigene Persönlichkeit.« Aus Ihren Antworten gewinne ich den Eindruck, dass Sie sich als Häftling sehr viel freier fühlen als die »Gefangenen« des Kremls und des Weißen Hauses, die an Händen und Füßen gefesselt sind, vor allem Angst haben und ihre Einkünfte vor der Öffentlichkeit geheim halten. Ihr Fall ist einzigartig: Erst haben Sie mehr als alle anderen verdient, dann haben Sie mehr als alle anderen verloren und scheinen das noch nicht einmal zu bedauern. Stimmt dieser Eindruck?
    Chodorkowski: Ich wollte schon als Kind Werksdirektor werden. Nicht Astronaut oder Offizier, sondern Direktor. Dieser Traum begleitete mich als Schüler und als Student. Mit diesem Traum betrat ich die »Große Welt«. Es dauerte nicht lange, da wurde der Traum Wirklichkeit. Zentrum für technische Innovation 50 , Arbeit bei der Bank, kurze Regierungstätigkeit, dann kam die Privatisierung. Was sie mir brachte, war nicht Geld, sondern die Möglichkeit, meinen Traum in die Tat umzusetzen. Meinen Kindheitstraum.

Weitere Kostenlose Bücher