Briefe aus dem Gefaengnis
Informationspolitik des Polizeiapparats oder einfach, weil der kiplingsche »Wasserwaffenstillstand« 37
beendet war. Wie dem auch sei, ohne irgendwelche vorhergehenden Diskussionen änderte sich die Lage drastisch. Ich muss sagen, dass zu diesem Zeitpunkt auch in meiner Position bestimmte Änderungen eingetreten waren, die sich im Laufe der Jahre 2001 und 2002 abzuzeichnen begannen. Die Hauptsache war, dass die Logik des internationalen Geschäfts es erforderlich machte, den Investoren alle vertraulichen Informationen über die Finanzen offenzulegen, um von einer möglichst genauen Prognose der Geschäftsentwicklung ausgehen zu können, wozu eine gesetzliche Fixierung der wichtigsten Aspekte der Tätigkeit von Unternehmen nötig war. Eine moderne Wirtschaft machte moderne gesellschaftliche Verhältnisse notwendig, die wir Schritt für Schritt durchzusetzen versuchten. Nicht generell, sondern konkret für unsere Branche. Es gelang uns, das Gesetz über den Pipeline-Transport durchzukriegen, das sogenannte »Recht auf gleichen Zugang zur Pipeline«, das heißt die Quoten, die früher einmal im Quartal von den Beamten nach Gutdünken vereinbart wurden, wurden gesetzlich fest verankert. Wir erreichten die Fixierung der Zollabgaben durch das Gesetz und konnten noch ein paar ähnliche, die Korruption verhindernde Korrekturen im Gesetz verankern. Wobei diese Korrekturen nicht durch die Hintertür zustande kamen, sondern auf offenen Anhörungen im Parlament beruhten. Bei einer offenen Besprechung mit Premierminister Michail Kassjanow 38 fühlte ich mich sogar einmal bemüßigt, von vier Ministern zu verlangen, ihr Interesse an der Aufrechterhaltung der alten Ordnung
offenzulegen. Als sie dies öffentlich ablehnten, waren ihre Einwände vom Tisch. Damit will ich sagen, es war ein harter Kampf. Im Vergleich zu heute waren die Methoden natürlich zivilisiert. Aber es gab jede Menge Unzufriedene. Wenn eine korrupte Gruppe ausgeschaltet war, wollte gleich eine andere an ihre Stelle treten. Mir wurde klar, dass ich ohne Unterstützung auf höchster Ebene nichts erreichen würde. Und so kam es zum Entschluss, die Frage der Korruption mit dem Präsidenten zu besprechen. Alexander Woloschin und – Sie werden sich wundern – Dmitri Medwedew, der damals in seiner Eigenschaft als Stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung eine Konferenz mit dem Russischen Unternehmer- und Industriellenverband (RSPP) vorbereitete, unterstützten diesen Punkt.
Die Konferenz war eine Sensation. Sie fand am 19. Februar 2003 statt. Ich sprach dort von dem gigantischen Marktanteil der Korruption in unserem Land: 30 Milliarden US-Dollar, das heißt zehn Prozent des damaligen Bruttoinlandsprodukts. (Übrigens nannte der Vizegeneralstaatsanwalt Anfang 2008 eine Zahl von 240 Milliarden US-Dollar, das heißt bereits zwanzig Prozent des Bruttoinlandsprodukts). Kurz danach, im März, begann meine Verfolgung. Und da kam dann eins zum anderen. So war es Usus, dass die großen Unternehmen die Abgeordneten ihrer Regionen und die Parteien (sowohl nach einer obligatorischen Quote als auch nach eigenem Ermessen) bei der Finanzierung des Wahlkampfs unterstützten. Im Zuge der Offenlegung der Finanzen des Konzerns nahm ich von einer geheimen Unterstützung Abstand und setzte mich statt dessen öffentlich und persönlich ein. Ich engagierte mich für die »Union der rechten Kräfte« (SPS) und »Jabloko«, und zwar nicht mit Mitteln des Konzernvermögens,
sondern mit meinen privaten Mitteln, die mir nach Abzug der Steuern verblieben. Auch einige meiner Kollegen unterstützten die Politiker, die ihnen politisch am ehesten zusagten. Das ist eine durchaus zivilisierte Praxis, und viele Beamte nahmen daran keinen Anstoß. Nach dem Februar 2003 wurde auf einmal eine andere Parole ausgegeben, und es hieß: Das ist die Vorbereitung zur Ergreifung der Macht.
Akunin: Von wem stammte diese Parole? Von wem wurde sie ausgegeben? Ohne Billigung Putins kann dies nicht geschehen sein, aber auf wessen Initiative ging das zurück? Was für eine Konstellation der Kräfte lag dem zugrunde?
Chodorkowski: Es gab im Kreml eine recht große Gruppe von Leuten, die die Verfolgung von Jukos für einen Fehler hielten. Sie versuchten, etwas zu unternehmen, fanden aber keine Unterstützung. Gegen Ende des Sommers wurde die Situation dramatisch. Mir wurde klar, dass während der zweiten Amtsperiode von Präsident Putin ein äußerst harter Kampf um die Macht im Kreml zwischen durchaus nicht
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