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Briefe aus dem Gefaengnis

Briefe aus dem Gefaengnis

Titel: Briefe aus dem Gefaengnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Chodorkowski
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Awisma, 51 Apatit und dann Jukos. Ein gigantischer Konzern, auf den ich mich immer vorbereitet hatte. Ich brauchte dafür meine Ausbildung und meine ganze bisherige
Erfahrung. Ich arbeitete wie ein Wilder, 14 Stunden pro Tag. Ich war ständig unterwegs, um mir ein Bild von der Situation vor Ort machen zu können, und das über eine Fläche von Hunderttausenden Quadratkilometern.
    Geld… Was heißt Geld? Als ich 1993 bei der Bank arbeitete, hatte ich mehr Geld als 1999 bei Jukos und bei Weitem mehr, als ich für meine persönlichen Bedürfnisse brauchte. Sie können sich nicht vorstellen, wie faszinierend es ist, wenn sich auf dem Papier entworfene Pläne in Metall verwandeln, in Tausende gezielt arbeitender Maschinen, in gigantische Bauten, in einen Traum, der wahr geworden ist…
    Und dann kommt die Müdigkeit, und du spürst die ganze Verantwortung, die auf dir lastet: für die Hoffnungen deiner Leute, für hunderttausend Menschen, für die unvermeidlichen Unglücksfälle, die du nicht hast verhindern können. Und da geht dir auf einmal auf: Nicht du verwirklichst deinen Traum, sondern dieser real gewordene Traum hat dich in der Hand. Du sagst, was du sagen musst. Deine Zeit ist für Monate und Jahre im Voraus verplant. Du verkehrst mit den Leuten, die dein »in Erfüllung gegangener Traum« braucht. Du bist sein Sklave. Da gehen dir die Augen auf, und du erkennst: Der Traum hat sich verselbstständigt, das Leben ist anders; das, was dir als wichtig erschien, ist nicht einfach unwichtig, sondern es hindert dich, etwas weit Wichtigeres zu tun, was du tun könntest, ja nicht nur könntest, sondern solltest!
    Das erste Mal, dass mir Zweifel kamen, war bei der Finanzkrise 1998, als der Rubel in den Keller fiel. Ich musste auf einmal erkennen, dass meine Pläne auf Sand gebaut sind. Die Hauptsache ist nicht das Materielle, sondern
sind die Menschen, und zwar nicht diejenigen, die für uns arbeiten, und seien es auch tausend Menschen, sondern das ganze Land. Aber damals hatte ich keine Zeit, lange nachzudenken, ich musste die Situation retten, mich für das Überleben des Konzerns ins Zeug legen. Wissen Sie, die Mitarbeiter, die Kollegen haben sehr dabei geholfen. Stellen Sie sich vor: Der Kurs war eingebrochen, der Rubel war nichts mehr wert, aber auch mit dem Verkauf gab es Probleme, die Preise für Benzin waren angestiegen, aber noch wollte sie keiner zahlen. Was tun? Ich sprach mit den Vertretern der Belegschaften (Hunderte von Menschen) und bat sie, einer Gehaltssenkung zuzustimmen. Und die Leute ließen sich darauf ein und versuchten, die Mitarbeiter vor Ort davon zu überzeugen, dass das richtig ist. Ich fuhr an die Orte, wo es am brenzligsten war. Die Arbeiter stimmten zu. Sie verstanden die Situation! Vielleicht war das der Moment, der den Ausschlag für das Überleben des Konzerns gab. Als sich im Jahr 2000 alles wieder eingerenkt hatte, kehrten die unangenehmen Gedanken zurück. So kam es zur Gründung von »Offenes Russland«, einer Organisation, die ich für Hilfsbedürftige einrichtete. 2002 erklärte ich beim Direktorenrat, dass ich 2008 aus dem Konzern ausscheiden wolle. Ein früherer Zeitpunkt war schwer machbar, aber länger wollte ich auf gar keinen Fall Sklave meines Wirklichkeit gewordenen Traums sein. Geld, deine Position, all das ist wichtig, wenn das, was du tust, im Einklang mit deinem genuinen Verständnis von dem, was richtig ist, steht. Ist das nicht der Fall, fühlst du dich unfrei. Dir diese Freiheit zu nehmen, daran hindert dich die Macht der Gewohnheit. So lässt du es zu, dass dich die Gegenstände, das System, deine Position oder dein Eigentum versklaven.
Ich bin fest davon überzeugt: Das einzig Richtige ist, all das hinzuschmeißen und etwas anderes zu machen. Als meine Frau und ich das Gefühl hatten, dass wir in Sachen ersticken, haben wir einfach das Notwendigste gepackt und sind umgezogen. Wir hatten keine eigene Wohnung, kein ständiges Zuhause, aber wir waren glücklich über unsere Unabhängigkeit. Und ich hoffe, wir haben auch unsere Kinder so erziehen können. Ich glaube fest daran, dass das Wichtigste und Notwendigste, was der Mensch hat, in seiner Seele beschlossen ist. Fünf Jahre Gefängnis, das bedeutete ebenfalls: ständige Verlegungen, zahlreiche Einschränkungen. Da kannst du wenig mitnehmen. Es tut dir leid um die Bücher, um deine Aufzeichnungen. Aber die habe ich im Kopf. Alles andere ist unwichtig. In diesem Sinne macht das Gefängnis den Menschen frei.
    Akunin:

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