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Briefe aus dem Gefaengnis

Briefe aus dem Gefaengnis

Titel: Briefe aus dem Gefaengnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Chodorkowski
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weiß ich nicht und werde es nie wissen. Jeder von uns für sich: für sein Glück. Und alle zusammen? Ich glaube, dass die Menschheit ein großes Ziel hat, das zu erkennen mir nicht vergönnt ist. Die Menschen haben dieses Ziel Gott genannt. Wenn wir diesem Ziel dienen, sind wir glücklich, wenn wir daran vorbeigehen, überkommt uns Leere. Eine Leere, die sich mit nichts Materiellem füllen lässt. Sie macht das Leben leer und den Tod schrecklich.
    Akunin : Als Sie im Gefängnis waren, haben Sie mehrere Artikel veröffentlicht, die einige der Menschen, die Sie für einen Gleichgesinnten hielten, stark irritiert haben. Bevor ich zu diesem Thema komme, möchte ich noch eine andere Frage stellen. Sie haben erklärt, warum Sie selten Interviews geben. Aber wie ist es mit Ihren Artikeln: Ist das etwas anderes? Verfassen Sie diese Artikel, weil Sie keinen Gesprächspartner haben, oder sagt Ihnen der Monolog mehr zu als der Dialog?
    Chodorkowski: Wissen Sie, ich habe nie besonders gern geschrieben. Ich habe immer gern gelesen, aber zu schreiben … Die Aufsätze in der Schule haben meistens die Mädchen, die ich liebte, für mich verfasst. Mit Leuten reden, auftreten, das gehörte zu meiner Arbeit als Chef eines großen Konzerns. Umgang mit der Presse, Auftritte vor Belegschaften und Investoren. Davon kamen im Jahr nicht Dutzende, sondern Hunderte zusammen. Als ich die karitative Arbeit aufnahm, wurde es noch mehr. Ich kann sagen, dass ich mich vor jeder Art von Zuhörern immer wohl in meiner Haut gefühlt habe. Nein, das stimmt nicht, Demonstrationen
mochte ich nie. Ich muss den Menschen in der letzten Reihe in die Augen sehen können, sonst verliere ich den Kontakt zu den Zuhörern. Dann kam das Gefängnis, das Gespräch mit den Zellengenossen und Anwälten. Ich hatte damit keinerlei Probleme, aber diese Leute haben nur Interesse für ganz bestimmte Fragen, die mich persönlich komischerweise wenig interessieren. Ich muss mit ihnen nicht über das, was mich interessiert, reden, sondern über das, was sie wollen. Im Fall der Anwälte liegt das vielleicht in meinem Interesse, aber nur vom rein juristischen Standpunkt aus betrachtet. Das ist der Grund, warum ich angefangen habe zu schreiben. Mit der Zeit habe ich gelernt, meine Gedanken zu Papier zu bringen. Das ist weniger gut als ein persönlicher Auftritt vor Zuhörern. Aber besser als nichts. Inzwischen habe ich eine ganze Reihe von Texten geschrieben und muss mich notgedrungen damit befassen, wie sie aufgenommen werden. Die Reaktionen stammen verständlicherweise von der politischen und kulturellen Elite und nicht von den »breiten Massen«, die so etwas bisher nicht zur Kenntnis nehmen. Meine Position erläutern, mich mit Gegnern auseinandersetzen, die mich nicht richtig verstanden haben, das geht häufig aus praktischen Gründen nicht. Was ich geschrieben habe, kann falsch interpretiert und für wer weiß was eingesetzt werden. Wenn ich anfange zu schreiben, weiß ich nicht, was herauskommt – der Text entsteht von selbst. Da mir ein Gesprächspartner fehlt, führe ich Selbstgespräche, debattiere über etwas und erkläre es mir. Das ist eine Art »kreative Schizophrenie«.
    Akunin: Dann wollen wir uns Ihre Artikel vorknöpfen. Wenn Sie nicht hinter Gittern säßen, was einen anständigen
Menschen an einer scharfen Polemik hindert, wären Sie von manchen Autoritäten wahrscheinlich schon ganz schön angegriffen worden. Auch ich bin in einer Reihe von Punkten absolut nicht einverstanden mit Ihnen. Können wir ohne Rücksicht auf das Gefängnis reden? Die verfluchten Mauern sind natürlich nicht wegzudenken, aber Gedanken kennen eigentlich keine Gitter.
    Chodorkowski: Prima, danke. Es gibt nichts Besseres als einen guten Opponenten.
    Akunin: Erstens, zur viel beschworenen Krise des Liberalismus. Es betrübt mich, dass Sie sich dem Chor derer angeschlossen haben, die diese Richtung verunglimpfen. Totengräber des Liberalismus gibt es auch ohne Sie im heutigen Russland mehr als genug. Sie haben völlig recht, wenn Sie schreiben, dass die Liberalen der Perestroika-Zeit sich als unglaubwürdig erwiesen haben, weil »sie sich nicht von ihren Mercedessen, Datschen, Villen, Nachtklubs und goldenen Kreditkarten trennen wollen«. Aber warum leiten Sie daraus abschätzige Verallgemeinerungen ab und behaupten, der russische Liberalismus zeichne sich aus: »durch eine genetisch angelegte Servilität, durch die Bereitschaft, für eine Portion Stör mit Meerrettich die Verfassung

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