Briefe aus dem Gefaengnis
Ich würde gern auf einen anderen Ausspruch von Ihnen eingehen, der viele Fragen aufgeworfen hat. »Alles hängt vom Glauben ab«, schrieben Sie zum Thema Moral und Gerechtigkeit. »Das Problem der heutigen russischen liberalen Öffentlichkeit ist, dass das Hauptargument für liberale Werte des Glaubens bedarf, dass der Mensch mit einem Streben nach Freiheit und Glück geboren ist. Die russischen Liberalen sind aber aus historischen Gründen Atheisten und nehmen das Argument des Glaubens nicht ernst.« Was wollten Sie damit sagen? Es handelt sich dabei um eine Erklärung, die zu wichtig ist, als dass man sie im Unklaren belassen sollte.
Chodorkowski: Warum ist die Demokratie besser als die Diktatur? Die Freiheit besser als die Unfreiheit? Warum ist es schlecht, zu lügen und gemein zu sein? Warum soll man seinen Nächsten lieben? Wozu soll man die Heimat verteidigen
und einem anderen Menschen zuliebe das eigene Leben opfern? »Danach« ist doch alles aus! Oder nicht? Worin besteht die Moral? Woher kommt sie? Sie entbehrt der Logik. Eine Logik kann man der einen wie der anderen Moral zuschreiben. Schufte haben oft mehr Erfolg als anständige Menschen, die Frage ist, ob sie glücklicher sind. Wenn sie glücklicher wären, würden wir nur unter Schuften leben. Gewalt und Gemeinheit würden in der Welt triumphieren. Aber das ist nicht der Fall. Der Mut siegt über die Gewalt, die Ehrlichkeit über die Gemeinheit, die Liebe über den Hass. Nicht sofort, aber im Endeffekt immer. Und die Welt wird besser. Warum? Unsere Zivilisation ist zweitausend, die Menschheit Millionen Jahre alt. Wir sind so, wie wir sind. Die Gesellschaft, die sich dem annähert, wie der Mensch wirklich ist, wird erfolgreicher und glücklicher sein. Die Wissenschaft erforscht den Menschen in einem fort, die Frage ist nur, ob man den Menschen begreifen kann oder ob er so unendlich wie die Welt ist. Ich weiß es nicht. Ich weiß, dass wir immer noch ein Geheimnis für die Logik und die Wissenschaft sind. Aber am Ende des Lehrbuchs steht eine Antwort. Woher? Das weiß ich nicht. Die Erfahrung lehrt es, lautet die richtige Antwort. Ich glaube fest, dass der Mensch in seinem Inneren ein Bedürfnis nach Freiheit, Liebe und Wahrheit hat und nur so glücklich sein kann. Die Beweise dafür? Ich habe keine. Ich kann mich zwar darüber auslassen, aber das ist Demagogie. Es gibt hundert Argumente dafür und dagegen. Wie ist der Mensch, wenn er frei von äußerem Druck ist? Ein gieriges Tier oder die Krönung der Schöpfung? Wenn er ein Tier ist, muss man Käfig-Staaten einrichten, um die Menschen daran zu hindern, sich gegenseitig auszurotten. Wenn er die
Krönung der Schöpfung ist, kann nichts vom Menschen Geschaffenes (Staat, Körperschaft, Gesellschaft) über dem von Gott erschaffenen Menschen stehen. Ich glaube an den Menschen. Das ist Glaube im emphatischen Sinn. Entschuldigen Sie meine etwas unzusammenhängenden Gedanken. Es liegt an dem Thema, dass ich meinen Gefühlen einfach freien Lauf gelassen habe.
Akunin: Glaube im emphatischen Sinn? Sie haben in einem Artikel geschrieben: »Ich danke Gott, dass ich im Unterschied zu vielen meiner Verfolger verstanden habe, dass großes Geld zu machen nicht der einzige (und möglicherweise bei Weitem nicht der wichtigste) Sinn menschlicher Bemühungen ist.« Heißt das, dass Sie im Gefängnis religiös geworden sind?
Chodorkowski: Ich war auch vor dem Gefängnis kein reiner Atheist. Gott, Fatum, Schicksal, Vorherbestimmung, wir glauben fast alle an etwas, das höher ist als wir. Und es wäre auch merkwürdig, wenn wir, die wir doch in einer riesigen, unerkannten Welt leben und uns selbst nicht richtig kennen, der Meinung wären: Alles, was uns umgibt, ist ein Zufallsprodukt. Man kann glauben, dass es Gott nicht gibt, und man kann glauben, dass es ihn gibt. Der Glaube braucht bekanntlich keine Beweise. Aber wenn es keinen Gott gibt und unser ganzes Leben nur eine Sekunde und so vergänglich wie Staub ist, was soll es dann? Wozu träumen wir, streben nach etwas, leiden? Warum wollen wir etwas wissen? Warum lieben wir? Wofür leben wir eigentlich? Ich kann nicht glauben, dass das ohne Grund ist. Das kann und will ich nicht. Mir ist nicht gleichgültig, was nach mir kommt, weil ich dann auch noch da sein werde. Weil jemand vor mir da war und nach mir kommt.
Das ist nicht sinnlos. Das ist nicht ohne Grund. Wir leben nicht, nur um Wasser und Luft zu verschmutzen. Wir existieren alle für ein größeres Ziel. Wofür,
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