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Briefe aus dem Gefaengnis

Briefe aus dem Gefaengnis

Titel: Briefe aus dem Gefaengnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Chodorkowski
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ich bereue es jeden Tag. Nein, ich bereue es nicht, ich hätte mit einer Ausreise nicht leben können.
    Akunin: Können Sie darauf bitte noch etwas genauer eingehen? Das ist ein wichtiger Punkt. Von Ihren Kollegen im Ausland haben Sie sich verabschiedet. Aber wie ist es mit Ihrer Familie? Ich bewege mich hier auf einem Feld, das eigentlich keinen Außenstehenden etwas angeht. Aber hier ist etwas angesprochen, worum die Hälfte meiner Bücher kreist. Ein Mann hat zwei Sphären, für die er verantwortlich ist: die Große Welt (sein Beruf; die Idee oder
der Glaube, dem er sich verpflichtet fühlt; die Gesellschaft, sein Land, die Kunst, egal was) und die Kleine Welt (die Familie, die engen Freunde). Der schwierigste Konflikt ist, wenn man zwischen der ersten und der zweiten Welt wählen muss. Die Große Welt zu verraten geht nicht, weil man damit nicht leben kann, wie Sie sehr richtig gesagt haben. Also ist man gezwungen, die Kleine Welt zu opfern, ohne die das Leben ohne alle Freude ist. Du fügst den Menschen Leid zu, die dir mehr wert sind als alle anderen zusammen. Einer meiner Bekannten sagte im Zusammenhang mit Ihrem Fall: »Für die Kinder ist es besser, auf einen abwesenden Vater stolz sein zu können als sich für einen anwesenden Vater schämen zu müssen.« Das stimmt natürlich, aber es ist grässlich. Und die Hauptsache: Woher die Kraft nehmen, eine Entscheidung zu treffen?
    Chodorkowski: Meine Frau und ich sind seit über zwanzig Jahren zusammen, und wir haben einiges hinter uns. Ich weiß nicht, wie oft sie sich in Gedanken von mir verabschiedet hat, aber mindestens zwei Mal: Als ich in den Jahren 1991 und 1993 wegging, um die Große Welt zu verteidigen, wie ich sie verstand, ließ ich ihr ein Gewehr und Patronen zurück, um ihr die Möglichkeit zu geben, unsere Kleine Welt zu verteidigen. Das meine ich nicht im übertragenen Sinn, sondern wörtlich. Ich weiß, sie würde sich bis zum letzten Moment mit der Waffe wehren. Obwohl man sich das heute kaum vorstellen kann. Oder vielleicht doch… Ich habe meine Frau gefragt: »Willst du dich nicht lieber in Sicherheit bringen?« Bei unseren Nachbarn hatte es schon Hausdurchsuchungen gegeben, unserer Tochter Nastja hatten sie schon in der Schule aufgelauert. Sie lehnte ab. Meine Eltern? Für sie war die Ehre immer wichtiger
als ihr Leben. Als ihr eigenes mit Sicherheit und vielleicht auch als meines. So dass ich in dieser Beziehung keine Zweifel hatte. Viele meiner Kollegen sind ausgereist, und das war richtig so, wozu die Zahl der Geiseln vergrößern? Und so kehrte ich also von meiner Israel-, USA- und Englandreise nach Russland zurück. Manche behaupten jetzt, ich habe mich auf die Zusagen bestimmter Leute verlassen. Das stimmt nicht. Alle meine Freunde und Bekannten haben mich eingeladen zu bleiben, die amerikanische Staatsangehörigkeit zu beantragen, zeigten aber auch Verständnis für meine Entscheidung. Wenn ich geblieben wäre, hätten sie mir natürlich bei allen Problemen geholfen, aber ich fürchte, sie hätten die Achtung vor mir verloren. Ich hoffe sehr, dass meine Kinder, die seit dem Kindergartenalter mit dem Wissen aufwachsen, dass ihr Vater im Gefängnis ist, wenn sie groß sind, ebenfalls verstehen, warum ich nicht anders handeln konnte. Meine Frau ist davon überzeugt, dass sie ihnen das wird erklären können.
    Im Oktober 2003 war sicher: Diese Runde hatten wir verloren. Das Ausmaß und die Formen der Rache unserer Gegner überstiegen allerdings unsere Befürchtungen. Keiner hätte es für möglich gehalten, dass der Konzern zerschlagen, die Justiz praktisch ausgeschaltet und den unabhängigen Medien das Maul gestopft wird. Das alles lag außerhalb dessen, was man sich hätte vorstellen können. Aber dass ich im Gefängnis landen und man mir den Konzern wegnehmen wird, das war mir schon damals klar. Und da ich die Entscheidung, nicht zu emigrieren, schon getroffen hatte, unternahm ich zum ersten Mal im Leben eine Reise durch die Regionen Russlands und hielt einen Vortrag, den ich zuvor schon mehrfach im Rahmen meines Engagements
für »Offenes Russland« gehalten hatte. Es geht in diesem Vortrag um die Demokratie. Ich schaffte sieben oder acht Regionen mit jeweils fünf bis sechs Auftritten. Und rief dazu auf, für die »Union der rechten Kräfte« (SPS) und »Jabloko« zu stimmen. Die Vorträge fanden in geräumigen Universitätssälen vor fünf- bis siebenhundert Personen statt. Sie werden erstaunt sein, aber sie hatten großen Erfolg.

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