Briefe aus dem Gefaengnis
harmlosen, sondern massiv auftretenden Gruppen entbrannt war. Die Zusammensetzung dieser Gruppen änderte sich ständig; man kann sie unter Vorbehalt als autoritäre und als liberale Gruppe bezeichnen, deren Vorstellungen von der Zukunft unseres Landes sich stark unterscheiden. Die einen, die man bedingt liberal nennen kann, sehen ihr Ziel in der Einrichtung einer demokratischen, offenen Gesellschaft. Ich würde sie eher als »Befürworter einzuhaltender Spielregeln« bezeichnen, obwohl auch das den Sachverhalt nicht ganz trifft. Sie wollen natürlich ebenfalls an die Macht, sind aber bereit, mit politischen Mitteln darum zu kämpfen. Es sind Leute, die Erfolg haben und sich deshalb einer Konkurrenz durchaus stellen können. Geld
ist für sie ein Mittel, aber nicht der Zweck des Staatsdienstes, denn sie sind zu Recht davon überzeugt, es immer zu schaffen, mehr zu verdienen, als sie brauchen.
Die andere Gruppe sind die »Silowiki« 39 , genauer: »Gegner von Spielregeln«. Es gibt viele davon in den Sicherheitsorganen, aber sie sind bestimmt nicht die Mehrheit. Auch in anderen politischen Bereichen sind sie zahlreich vertreten. Sie sind unsicher und neigen deshalb dazu, ihre Unsicherheit mit dem Rückgriff auf Gewalt zu kompensieren. Aufgrund ihrer unsicheren Perspektiven haben Macht und mehr noch Geld für sie eine magische Anziehungskraft. Die Zweifel an ihrer eigenen Konkurrenzfähigkeit machen den Einsatz antidemokratischer, gewalttätiger Methoden politischer und wirtschaftlicher Auseinandersetzung nötig. Zweifel an den eigenen Kräften und Misstrauen dem eigenen Volk gegenüber sind auch der Grund für ihre Tendenz, sich von der Außenwelt abzuschotten, keine Meinungsfreiheit zuzulassen und so weiter.
All das war schon 2002 ersichtlich, und ich brachte dies im Februar bei der Konferenz mit dem Präsidenten offen zur Sprache. Im Sommer zeichnete sich noch nicht ab, dass wir verlieren würden, aber dass die Krise sich zuspitzte und unsere Gegner sich keinerlei Zurückhaltung auferlegten, lag auf der Hand. Ich weiß nicht, ob man Namen nennen sollte, aber die Gegenseite, das waren Igor Iwanowitsch Setschin 40 und jede Menge Beamte aus der zweiten Reihe
(das heißt solche, die ihn nicht nur aus Überzeugung unterstützten, sondern weil sie auf Beförderung hofften oder weil belastendes Material gegen sie vorlag). Aber auch Juri Saostrowzew, 41 Viktor Birjukow 42 und viele andere gehörten dazu. Übrigens verhielten sich Wladimir Wassiljewitsch Ustinow 43 und Nikolai Platonowitsch Patruschew 44 bis zum letzten Augenblick neutral. Das muss man sagen. Auf »meiner« Seite waren Alexander Woloschin, 45 Dmitri Medwedew, Michail Kassjanow, Anatoli Tschubais, 46 Andrej Illarionow, 47 Arkadi Dworkowitsch 48 und sogar German Gref 49 – bis zu einem bestimmten Moment.
Akunin: Es hat doch wahrscheinlich einen Punkt gegeben, an dem Sie erkannt haben, dass diese Leute auch vor einer Verhaftung nicht zurückschrecken würden. Hat man Ihnen gegenüber Anspielungen gemacht, es wäre besser für Sie, wenn Sie sich absetzten? Warum sind Sie nicht ausgereist? Hat es eine klare Schwelle gegeben, einen »Point of no return«, an dem Sie beschlossen haben: Sollen sie mich doch einbuchten, ich reise nicht aus?
Chodorkowski: Ich hätte emigrieren können, hätte das
aber nach der Verhaftung Platon Lebedews als Verrat empfunden. Ende des Sommers 2003 fuhr ich ins Ausland, verabschiedete mich für alle Fälle von meinen Kollegen, die schon im Ausland waren, und kehrte nach Russland zurück.
Akunin: Noch eine Frage zum selben Thema, die ich sehr ungern stelle. Aber da dieser Punkt viele beschäftigt, möchte ich sie nicht zurückhalten. Hat es Momente gegeben, in denen Sie es bereut haben, dass sie nicht emigriert sind?
Chodorkowski: Das ist für mich eine ambivalente Sache. Schon als ich ins Ausland reiste, bereute die eine Hälfte von mir, dass ich zurück musste, und sie bereut es bis heute jeden Tag, den ich von meiner Familie und meinem Zuhause getrennt bin. Doch da ist die andere Hälfte, die für mein Pflichtgefühl steht, die in Kategorien von Anstand und Verrat denkt; sie lässt mir keine Ruhe. Vielleicht sind meine Prinzipien idiotisch. Vielleicht müsste man flexibler sein. Sicher müsste man das. Aber ich bin schon 45, und meine Prinzipien sind nun einmal so. Ich hätte mich wahrscheinlich darüber hinwegsetzen können, aber wie ich dann hätte leben sollen, weiß ich nicht. So dass es zwei ehrliche Antworten gibt. Ja,
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