Briefe aus dem Gefaengnis
zu ignorieren«, und schreiben: »So war der russische Liberale immer, und so ist er auch geblieben. « Meinen Sie damit Pjotr Tschaadajew, 52 Alexander Herzen und Wladimir Korolenko? 53 Oder Andrej Sacharow, der für mich der Liberale par excellence ist? Liberalismus ist nicht die Herrschaft des »Mammons
über das Böse«. Es geht gar nicht um Geld, sondern um ein Gefühl für die eigene Würde. Ich kann das Geschimpfe über die »verfluchten Neunziger« nicht mehr hören. Wo wären wir heute ohne die Neunziger Jahre? Man kann den Liberalismus nicht verteufeln, nur weil ein Teil der Liberalen (nicht der beste, sondern der umtriebigste Teil) A sagt, aber nicht B sagen will. Das zeigt lediglich, dass wir die Demokratie nicht von oben dekretiert bekommen, sondern nur auf natürliche, und das heißt, schwierige Weise von unten, »von den Wurzeln her« aufbauen können. »Die alten Rechten« müssen schnellstmöglich verschwinden, sie haben sich unwiderruflich diskreditiert. »Die neuen Rechten« werden sie ablösen, um eine Zivilgesellschaft von unten nach oben und nicht von oben nach unten aufzubauen. Und zwar nach den verbürgten liberalen Kriterien: Achtung der Rechte der Persönlichkeit, Toleranz, Zivilcourage, Patriotismus ohne Fremdenhass. Das läuft, einfach gesagt, darauf hinaus, sich vor dem Starken nicht zu ducken und den Schwachen nicht zu übervorteilen. Wenn Sie damit nicht einverstanden sind, widersprechen Sie.
Chodorkowski: Erstens, die zahlreichen zweifellos ehrenhaften Autoritäten mit liberalen oder gerade nicht liberalen Ansichten sollten wir, finde ich, lieber aus dem Spiel lassen. Sonst kommen Sie mir mit Herzen, und ich halte Puschkin und sein Arrangement mit dem Chef der Geheimpolizei Benkendorf sowie dem Zaren dagegen. Sie kommen mir mit Tschaadajew, ich nenne die Dekabristen (vielleicht Michail Lunin 54 ausgenommen). Sie kommen mir mit Korolenko,
ich nenne Sergej Koroljow, 55 der zwar kein Liberaler, aber ein anständiger Mensch ist. Nehmen wir uns besser die Masse der Leute vor, die liberale Ansichten vertreten, und zwar weniger in wirtschaftlicher Hinsicht – das ist nämlich ein Extrathema – als vielmehr in der Politik. Ein Liberaler, das ist ein Mensch, der das Individuum über die Gesellschaft, den Staat und alle anderen Einrichtungen der Menschheit stellt. Die Hauptsache der liberalen Idee sind meiner Ansicht nach die Menschenrechte.
Wenn man sich die Zahl der Beschwerden beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ansieht, könnte man meinen, in unserem Land sei jeder Zweite ein Liberaler (das ist nicht ganz ernst gemeint). Aber Scherz beiseite, es gibt bei uns jetzt ziemlich viele Liberale, und wenige waren es nie. Auffällig ist: Wenn diese Liberalen an die Macht kommen oder finanziellen Erfolg haben, dann vergessen viele von ihnen auf einmal ihre liberale Vergangenheit. Natürlich nicht alle, aber… Was mir persönlich noch mehr missfällt: Die russischen Liberalen der vorrevolutionären wie der nachrevolutionären Zeit wollten oder konnten mit ihren individuellen Begehrlichkeiten nie zugunsten eines gemeinsamen Zieles zurückstecken. Das tut der liberalen Idee Abbruch, und – was die Hauptsache ist – es schränkt ihren Erfolg in unserem Land enorm ein. Es ist unverkennbar, dass die westliche liberale Gesellschaft in dieser Hinsicht sehr viel effektiver ist. Ein Teil der persönlichen Freiheit wird dort bewusst allgemeinen Zielen geopfert. Und sie werden auch erreicht. Bei uns dagegen gibt es nur die Alternative: »Ich bin der einzig Schlaue, und alle,
die mit mir nicht einverstanden sind, sind meine Feinde« – oder »Ich bin Liberaler, solange ich keinen Erfolg habe, aber danach ist auch mit jeglichem Liberalismus nach unten Schluss.« Zweitens (alles Vorherige gehörte zum ersten Punkt, wie Sie sich erinnern werden): Als ich diesen Artikel schrieb, im März 2004, war ich sehr enttäuscht über die Ergebnisse der Parlamentswahlen und ließ mich zu einigen extremen Verallgemeinerungen hinreißen, zu denen ich sonst eher nicht neige. Was ich über die Liberalen sagte, war in vielem auf mich selbst gemünzt. Obwohl ich eigentlich gar kein Liberaler bin in dem Sinn, in dem man diesen Begriff im Allgemeinen gebraucht. Ich befürworte einen starken Staat in Russland, und ich habe dafür eine ganze Reihe von Argumenten. Ich bin für eine aktive Industriepolitik, einen Sozialstaat. Kurz gesagt, das skandinavische Modell. Russland ist ein riesiges Land mit
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