Briefe aus dem Gefaengnis
harten klimatischen Bedingungen, mit einer schwierigen geopolitischen Umgebung. Ein schwacher Staat ist einfach nicht dazu imstande, mit allen unvorhersehbaren Situationen fertig zu werden. Was die klimatischen Bedingungen angeht: Die USA haben eine liberalere Wirtschaft als Kanada, wo die Natur sehr viel rauer ist. Andererseits muss ein starker Staat, damit er nicht wieder zu einem totalitären Ungetüm degeneriert, nicht nur eine starke Zivilgesellschaft an seiner Seite haben, sondern er muss auch über ein makellos funktionierendes System der Gewaltenteilung verfügen, öffentliche Kontrolle, eine starke Opposition. Mit anderen Worten: der starke Staat muss ein Super-Rechtsstaat sein. Die neuen Liberalen oder richtiger: Demokraten (die Bezeichnung »Die neuen Rechten« mag ich nicht, die Aufteilung in »rechts« und »links« führt nur in die Irre) werden sich zweifelsohne durchsetzen.
Unsere Kinder werden zu ihnen gehören. Aber was sollen wir ihnen sagen? Wir haben euch diese Unordnung aus Feigheit hinterlassen, liebe Kinder? Wir haben für ein Auto gespart, das leider unten Rost angesetzt hat? Für eine Wohnung, aus der wir jeden Moment von einem Beamten verjagt werden können? Oder: Es lag nicht an unserer Feigheit, sondern an überzogenen »ästhetischen Ansprüchen«, dass wir uns nicht haben einigen können? Wenn wir die Demokratie haben wollen, müssen sich alle für sie einsetzen, die Linken wie die Rechten, die Liberalen wie die Anhänger eines starken Staats. Alle, wie sie da sind, für sich selbst und ihre Kinder, gegen Autoritarismus und Korruption, für einen Rechtsstaat und demokratische Institutionen. Und dann wollen wir in einem echten Parlament, auf den Bildschirmen eines unabhängigen Fernsehens, vor einem unabhängigen Gericht darum streiten, wie hoch die Steuern sein sollen, ob man die Rohstoffbranchen vergesellschaften oder privatisieren soll, ob das Gesundheitssystem etwas kosten soll und so weiter. Das ist eine ganz normale Debatte.
Womit soll man anfangen? Mit dem Aufbau einer Zivilgesellschaft von unten? Das kann nicht schaden, geht aber sehr langsam. Uns steht jetzt eine andere Möglichkeit offen, die hart ist, aber die Verantwortung nicht auf die kommenden Generationen abwälzt. Ich meine den Kampf gegen die Korruption, und als Schlüssel zu diesem Kampf: eine unabhängige Gerichtsbarkeit. Ich bin davon überzeugt, dass der Kampf gegen die Korruption in Russland ein Kampf für die Demokratie ist. Das ist auch der Grund, weshalb der Kampf für ein unabhängiges, unkorrumpiertes Gericht die entscheidende Frage für das heutige Russland ist. Das ist unsere aktuelle Aufgabe. Wir könnten zusammen zum Erfolg
kommen, wenn wir die Bemühungen der ganzen linken-rechten-liberalen-demokratischen Intelligenz vereinen würden. Ich bin absolut nicht einverstanden mit den Appellen an die liberale und demokratische Öffentlichkeit, nicht mit den Machthabern zusammenzuarbeiten. Das ist der Weg der Schwachen. Der Weg der Starken besteht darin, die demokratischen Werte, die Menschenrechte, wo auch immer zu verteidigen, gegen die verharmlosend als »Verwaltungsgebühr« deklarierte Korruption zu kämpfen und allen Versuchungen zu widerstehen. Sollen die Machthaber, solange sie an der Macht sind, doch selbst wählen, mit wem sie zusammenarbeiten wollen, und wissen, dass wir nicht nur unsere Kenntnisse, sondern auch unsere Ideale mit an die Macht bringen.
Akunin: In Ihren Artikeln über die Notwendigkeit eines Linksrucks scheint mir vieles richtig, aber die allgemeine Idee finde ich falsch und oberflächlich. Oder ich habe sie (wie viele andere Leser) nicht richtig verstanden. Die sich bei uns Kommunisten und Sozialisten nennen, sind doch gar keine. Gennadi Sjuganow 56 und Genossen, das sind keine Linken, sondern zu nichts zu gebrauchende, handlungsunfähige Fossilien des alten Regimes. Wie können Sie ernsthaft darauf hoffen, dass sich diese untauglichen Funktionäre (die cleveren rennen längst in die Kirche und machen Geschäfte) für soziale Gerechtigkeit einsetzen könnten? Genauso wie wir »neue Rechte« brauchen, brauchen wir auch »neue Linke«. Sie werden zweifellos kommen, und zwar bald. Sie werden sich aus der Streikbewegung
rekrutieren, aus Gewerkschaften, die wirklich welche sind und sich nicht nur so nennen. Und mit diesen Leuten wird man dann ein Gleichgewicht der Kraftfelder herstellen und die goldene Mitte zwischen »Rechts« und »Links« finden müssen. Oder glauben Sie etwa immer noch
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