Briefe aus dem Gefaengnis
Macht zu betrachten, die Hoffnung und Glauben schenkt. Eine solche Macht kann man nicht für sich einspannen, man muss erst einmal aufhören, sie als höhere Macht zu betrachten. Wie uns die russische Geschichte lehrt, führt der Verlust dieser besonderen, irrationalen Hochachtung vor dem Staat unser Land unweigerlich und unabänderlich ins Chaos, zu Aufruhr und Revolution.« Das stimmt meiner Meinung nach absolut nicht. (Wir setzen hier ansatzweise den Streit Belinskis und Gogols über das Volk fort und parodieren ihn; offensichtlich
ist dieser Streit unendlich.) Unser Volk schaut keineswegs mit Hoffnung und Glauben zum Staat auf. Ganz im Gegenteil: mit Misstrauen und Unglauben. Die normale Reaktion auf eine Nötigung vonseiten des Staates besteht in List, Ausflucht, Umgehung des Gesetzes. Denn der Staat wird eben nicht als eine Sache empfunden, die etwas mit dir zu tun hat. Das ist das größte Übel und Problem der russischen Auffassung vom Staat. Aus Erinnerung und eigener Erfahrung wissen die Menschen: der Staat ist ihr Feind, der nur darauf aus ist, unangenehme Gesetze zu erfinden, zu betrügen, zu plündern, die jungen Männer in der Armee zu Krüppeln zu machen. So war es unter den Zaren und den kommunistischen Generalsekretären. Und so ist es auch geblieben. In demokratischen Ländern wird der Staat als eine etwas lästige, aber wohlwollende Macht empfunden, die Schutz und Unterstützung bietet. Und eine ähnliche Einstellung hat man dort der Polizei gegenüber. Die dortige Devise »Dienen und Schützen« klingt etwas unterwürfig, ist aber eine gute Devise. Die Devise unseres Staates und besonders die der Polizei (die im Massenbewusstsein mit dem Staat identifiziert wird) lautet dagegen: »Unterdrücken und Ausplündern«. Und das soll eine »höhere Macht« sein? Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen!
Chodorkowski: Das ist ein sehr interessantes Problem! Ich habe einmal geschrieben, dass der russische Staat sich seit dem Einfall der Mongolen, genauer: noch früher, seit dem »Marsch nach Osten« der Bevölkerung gegenüber wie ein Okkupant zu einem unterworfenen Volk verhält. Ohne jedes Verantwortungsgefühl, ohne gesellschaftliche Übereinkunft erhebt er nicht etwa Steuern, sondern sammelt den ihm zustehenden Tribut ein und hält es nicht im Mindesten
für notwendig, darüber Rechenschaft abzulegen. Er ist Herrscher und nicht Diener. Das hat eine Reihe historischer Gründe.
Die Orte, wo es dafür weniger Gründe gab, haben mehr innere Demokratie. Das trifft insbesondere für den Nordwesten Russlands (das Litauisch-Russische Fürstentum) zu. In den anderen Regionen sieht es düster aus. Und erst jetzt, im Zuge der Globalisierung, beginnt sich die Situation langsam zu ändern. Solange die Menschen die Macht nicht als ihre Sache empfanden, haben sie natürlich Mittel und Wege gesucht, um sich der Unterdrückung und den Abgaben zu entziehen. Die Macht ihrerseits hat die Möglichkeiten der Selbstverwaltung der Bevölkerung konsequent beschnitten. Im Ergebnis fügte sich das Volk äußerlich, gewöhnte sich daran und war auf der Hut, legte aber nach außen Ergebenheit an den Tag. In der Einschätzung dieser Situation sind wir einer Meinung. Aber angesichts der äußerst harten natürlichen und klimatischen Bedingungen und angesichts des Drucks aggressiver äußerer Mächte rief das russische Volk, das keine Selbstverwaltung kannte, üblicherweise eben diese Macht, die es nicht als seine eigene Sache empfand, zu Hilfe. Es bildete sich eine Art »Stockholm-Syndrom« zwischen Aggressor und Geisel. In der heutigen Welt ist es zweifelsohne nötig und möglich, von diesen »Okkupations«-Verhältnissen wegzukommen und zu normalen, auf gesellschaftlicher Übereinkunft gründenden Beziehungen zu gelangen. Aber das »kollektive Unbewusste« ist sehr zäh. Wenn wir das Verständnis des Staats als höhere Macht zerstören, ohne im Bewusstsein der Menschen zuvor den Glauben an die demokratischen Institutionen aufgebaut und verankert zu haben, kommt es zum russischen
Aufstand, einem Aufstand, der »sinnlos und schonungslos« ist. Vielleicht nicht in seinen extremsten Formen, vielleicht aber doch. Deshalb bin ich davon überzeugt: Die Aufgabe der heutigen Macht und der demokratischen Gemeinschaft ist extrem schwierig. Sie besteht darin, demokratische Institutionen und den Glauben an sie aufzubauen, ohne den Glauben an den Staat als »höhere Macht« zu zerstören. Damit hängen eine Menge Probleme und unsere ständigen
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