Briefe aus dem Gefaengnis
sozialistische Staatseigentum der Sowjetunion bekommen, für das drei Generationen ihr Blut und ihren Schweiß hergegeben haben? Warum konnten Menschen, die weder besonders klug noch besonders gebildet waren, Millionen scheffeln, während Akademiker, Astronauten und Kapitäne am Existenzminimum leben? War der viel gelobte und viel gescholtene sowjetische Sozialismus am Ende also gar nicht so schlecht?
Nationalbewusstsein . Warum hat man uns, als wir in der »bösen« Sowjetunion lebten, geachtet oder wenigstens auf der ganzen Welt gefürchtet, während man uns jetzt wie Idioten und Bettler verachtet?
Politische Ethik. Wir konnten die ZKs der KPdSU und des Komsomol wegen ihres Zynismus und der unverdienten Privilegien nicht ausstehen, aber haben wir Herrscher verdient, die zehnmal so zynisch und hundertmal so raffgierig sind wie die Parteibonzen, die uns im Vergleich zu den neuen Machthabern wie liebe Datschenopas vorkommen?
Angst vor einer unsicheren Zukunft, Fehlen einer Vision. Man hat uns aus unserem verbeulten »Saporoshez« gestoßen und uns einen Mercedes versprochen. Stattdessen setzte man uns auf einem matschigen Feldweg am Ende der Welt ab. Wo sind wir überhaupt? Wo in aller Welt? Gibt es hier überhaupt Licht?
Ob wir es wollten oder nicht, auf all diese Fragen hatte damals nur Gennadi Sjuganow eine überzeugende Antwort. Deshalb unterschrieb ich im März 1996 zusammen mit dreizehn weiteren führenden (nach den damaligen Maßstäben) Unternehmern den heute fast völlig in Vergessenheit geratenen Aufruf »Heraus aus der Sackgasse!« Unsere Position war eindeutig, und mir ist wichtig zu sagen, dass wir aus Überzeugung gehandelt haben. Boris Jelzin sollte Präsident bleiben, und zwar als Garant der bürgerlichen Freiheiten und Menschenrechte. Premierminister dagegen, und zwar mit erweiterten Vollmachten, sollte der Chef der KPRF werden. Denn wenn es nicht zu einem »Krieg nach den Wahlen« kommen sollte, müssten Wirtschafts- und Sozialpolitik »rot werden«, wie es in dem Aufruf hieß. Es musste einen Linksruck geben, um Freiheit und Gerechtigkeit, die wenigen Sieger und die vielen, die sich durch die allgemeine Liberalisierung als Verlierer fühlten, miteinander zu versöhnen.
Bekanntlich ist es nicht zu diesem (historisch notwendigen) Kompromiss eines Tandems Jelzin-Sjuganow gekommen. Warum, das wissen diejenigen besser, die im Unterschied zu mir im Kreml ein- und ausgingen. Vielleicht ist es die Schuld der engsten Berater Jelzins, die selbst um den Preis dauerhafter Instabilität nicht bereit waren, irgendetwas an irgendjemanden abzugeben. Vielleicht ist es auch die Schuld Sjuganows, der sich entweder nicht absprechen wollte, weil er hundertprozentig von seinem Sieg überzeugt war oder, wie viele inzwischen meinen, die Macht gar nicht übernehmen wollte, sondern weitsichtig genug war, um diese große Belastung zu fürchten.
Es wurde eine andere Strategie gewählt: Man investierte in Millionenhöhe und kurbelte eine riesige Propagandamaschinerie
für Jelzin an. Zweifellos folgte sie einem autoritären Drehbuch. Die Wertvorstellungen der späten neunziger Jahre gehen auf diese Zeit zurück, die wichtigste von ihnen lautet: Der Zweck heiligt die Mittel. Wenn wir den Sieg brauchen, dann lassen wir erst mal die Kommunisten nicht ins Fernsehen, danach können wir weitersehen. Dann ziehen wir General Lebedew aus dem Hut, damit er Sjuganow 15 Prozent der Stimmen abspenstig macht, und wenn wir ihn nicht mehr brauchen, lassen wir ihn fallen. Damals verwandelten sich die Journalisten von Architekten der öffentlichen Meinung in fügsame Diener ihrer Herren, und die unabhängigen öffentlichen Anstalten wurden zu Sprachrohren ihrer Sponsoren. Seit Juli 1996 wissen wir: »Nur der Mammon siegt über das Böse«, sonst nichts.
Damals war im Kreml bereits klar, dass das rechtsliberale Jelzin-Regime nicht auf demokratischem Weg an der Macht zu halten war. Wären alle Kandidaten vor dem Gesetz gleich gewesen, wäre Sjuganow nicht zu schlagen gewesen. Auch im Jahr 2000 ging es nicht ohne merkliches Abrücken von demokratischen Prinzipien. Damals kam Wladimir Putin ins Spiel, auf dessen Schultern bereits der zweite Tschetschenienkrieg lastete und der ein politisches Programm verkündete, das versprach: »Stabilität an der Macht bedeutet Stabilität im Land«.
Im Sommer 1999, als Jelzins Gesundheitszustand immer besorgniserregender wurde, kam die neue Generation der Strippenzieher im Kreml zu dem Schluss, dass es
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