Briefe aus dem Gefaengnis
einzigen Beweis für meine Schuld gibt. Das spielt keine Rolle, sie werden neue Anklagen aus dem Hut ziehen, so z. B. ich hätte die Manege in Brand gesteckt 57 oder ich sei ein wirtschaftlicher Konterrevolutionär. Mir ist inzwischen völlig klar: Sie wollen mich auf Dauer hinter Gitter bringen, für fünf oder mehr Jahre, weil sie Angst haben, ich könnte mich an ihnen rächen wollen.
Diese einfältigen Menschen gehen in ihrem Urteil immer von sich selbst aus. Keine Sorge: Ich will mich nicht als Graf von Monte Christo aufspielen. Frühlingsluft schnuppern, mit meinen Kindern spielen, die in eine gewöhnliche Moskauer Schule gehen werden, gute Bücher lesen, das ist entschieden wichtiger, richtiger und angenehmer, als sich um Eigentum zu streiten und mit der eigenen Vergangenheit abzurechnen.
Ich danke Gott, dass ich im Unterschied zu meinen Gegnern verstanden habe, dass viel Geld zu verdienen nicht der einzige (und möglicherweise auch bei Weitem nicht der wichtigste) Sinn menschlicher Anstrengungen ist. Und jetzt, da ich mich von der Last der Vergangenheit befreit habe, will ich für das Wohl der Generationen arbeiten, denen unser Land bald gehören wird. Generationen, mit denen neue Werte und neue Hoffnungen kommen werden.
Verfasser: ein Privatmann, Bürger der Russischen Föderation, Untersuchungsgefängnis (SISO Nr. 99/1) Moskau
Linksruck
»Wedomosti«, 1. August 2005
Wie im Moment allgemein bemerkt und zum Glück auch offen ausgesprochen wird, sind derzeit autoritäre Strömungen unaufhaltsam im Vormarsch. Dabei sind diese Strömungen derart unkreativ und verknöchert, dass man sich an Tschernenkos 58 Zeiten erinnert fühlt.
Das ist kaum zu bestreiten. Aber ich glaube nicht wie zahlreiche russische und ausländische Analysten und Beobachter, dass diese Neuauflage autoritärer Tendenzen auf Wladimir Putin und seine »Leningrader Mannschaft« zurückzuführen ist. Der Freifahrtschein zum Autoritarismus der neuesten russischen Geschichte wurde schon 1996 ausgestellt, als Boris Jelzin auf sehr spezifische Weise zum zweiten Mal zum russischen Präsidenten gemacht wurde.
Ich erinnere mich gut an den trüben Januar des Jahres 1996. Die Mehrheit der Liberalen und Demokraten (ich nahm damals die Bedeutung der Worte nicht so genau und fühlte mich natürlich beiden zugehörig) war angeschlagen und enttäuscht über den überragenden Sieg der KPRF
(Kommunistische Partei der Russischen Föderation) bei den Duma-Wahlen von 1995. Aber noch mehr enttäuschte mich die Bereitschaft vieler Mitglieder aus Jelzins Team, bei Gennadi Sjuganow anzuklopfen, sich unter reichlich servilem Lächeln für den vorherigen Flirt mit der Freiheit zu entschuldigen und druckfrische Gutscheine für Karriereposten in Empfang zu nehmen.
Wie viele Gleichgesinnte hatte ich nicht den geringsten Zweifel, dass Sjuganow die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen gewinnen würde. Und zwar nicht etwa, weil Jelzin, wie sich damals herausstellte, schwerkrank war, heftig trank oder einfach das Interesse an einer Fortführung seiner Regierung verloren hatte. Was den politischen Jargon angeht, waren wir noch keine Profis, begriffen aber sehr wohl, dass sich an der sogenannten nationalen Agenda etwas geändert hatte.
In den Jahren 1990 und 1991, als der Niedergang des Sowjetregimes offenkundig wurde, sehnte sich unser Land nach Freiheit. Nach dem Recht auf Individualität, nach dem Recht, frei zu denken, zu reden, zu lesen, Augen und Ohren aufsperren und ins Ausland reisen zu dürfen, nicht zu Parteiversammlungen und allwöchentlichen Politschulungen gehen zu müssen, auf Ernteeinsätze zu pfeifen und sich nicht für jeden Schritt rechtfertigen zu müssen. Wir haben uns die Demokratie wie ein Wunder vorgestellt, das alle unsere Probleme lösen würde, ohne dass wir uns hätten beteiligen oder gar anstrengen müssen. Die Sowjetunion brauchte nur den Zaubertrunk mit Namen »Demokratie« zu schlucken, dann würde sie binnen Jahresfrist (ja, selbst das war noch reichlich bemessen!) zu einer großen, reichen und sauberen Version der Schweiz oder Finnlands werden.
Mitte der neunziger Jahre jedoch wurde deutlich, dass das Wunder der Demokratie sich irgendwie nicht eingestellt hatte. Dass die Freiheit uns kein Glück gebracht hatte. Dass wir uns einfach nicht darauf verstanden, auf bürgerliche, Schweizer Art ehrlich, bescheiden und genau zu sein. Vor unserem Land und seiner Bevölkerung standen ganz andere Fragen:
Gerechtigkeit . Wer hat das
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