Briefe aus dem Gefaengnis
Artikel »Linksruck« auslöste, haben sich ein paar Fragen von großer Bedeutung ergeben, auf die ich unverzüglich antworten möchte.
Gibt es heute in Russland fähige moderne Kräfte der Opposition mit linken oder linksliberalen Ansichten?
Wie würde das Wirtschaftsprogramm bei einem »Linksruck« eigentlich aussehen?
Hat unser Land genügend politisches Personal, das einen »Linksruck« gewährleisten und ein entsprechendes wirtschaftspolitisches Programm umsetzen könnte?
Und schließlich:
4. Häftling Chodorkowski & Co., glauben Sie wirklich, dass ein Machtwechsel in Russland Ihr Los erträglicher machen wird?
Diese – offen oder verdeckt gestellte – Frage 4 kam aus rechtsliberalen Kreisen, die sich unerwartet als das ideologische Rückgrat von Waldimir Putins Regime herausgestellt haben. Mit der Antwort auf diese – in jedem Wortsinn – letzte Frage will ich beginnen.
Albtraum 2008
Es kursiert die Meinung, Dutzende oder Hunderte von russischen Politikern träumten davon, 2008 Präsident Russlands zu werden. Um Gasprom, Rosneft, den Rüstungsexport und -import und gleich noch zwei, drei Fernsehkanäle zu kontrollieren. Milliarden US-Dollar zu verdienen, Empfänge im Kreml, in Peterhof 68 und Strelna 69 zu geben, mit dem französischen Präsidenten auf die Jagd beziehungsweise mit dem amerikanischen Präsidenten angeln zu gehen, sich danach im Fernsehen dessen zu brüsten und ruhig schlafen zu können. Zumindest bis zum Ende der verfassungsmäßigen Frist der Präsidentschaft. Oder auch länger.
So sieht die parasitäre Denkart der russischen politischen Elite unserer Tage aus. Die einzige Frage, die sie wirklich interessiert, lautet: Wie kann ich es einrichten, von diesem sogenannten Russland etwas Handfestes zu kriegen? Die Frage: »Und was hast du für Russland getan?« wird überhaupt nicht gestellt.
Mir persönlich hat Russland sehr viel gegeben. In den siebziger und achtziger Jahren eine Ausbildung, auf die ich stolz sein kann. In den neunziger Jahren hat es mich (lt. »Forbes«) zum reichsten Mann der Nachsowjetzeit gemacht.
Im letzten Jahrzehnt hat es mich meines Eigentums beraubt,
mich ins Gefängnis gesperrt, wo es mir eine weitere Ausbildung geboten hat: diesmal eine allgemein menschliche. Und ich kann sagen, die Menschen, die in zweieinhalb bis drei Jahren über Russland regieren, werden verstehen müssen, dass es aus ist mit der Schmarotzerei. Das Land ist konkurrenzunfähig, und der Vorrat an Strapazierfähigkeit der Bürger, den die Sowjetunion angelegt hat, ist aufgebraucht.
Auf die Russische Föderation kommen folgende objektive – ich unterstreiche: objektive, also von unseren Wünschen, darüber nachzudenken, unabhängige – Probleme zu:
– Der Verschleiß der nationalen Infrastruktur. Dies droht zu einer Umweltkatastrophe zu führen.
– Eine demografische Krise. Die Abnahme der Bevölkerung um fast eine Million Menschen jährlich wird unter anderem bedeuten, dass sich in einer Reihe von Regionen Ostsibiriens und des Fernen Ostens die chinesische Bevölkerung (die in erster Linie aus illegalen Immigranten besteht) zahlenmäßig der russischen nahezu angleichen wird. Die Bürger der chinesischen Volksrepublik werden über verschiedene Sektoren der fernöstlichen Wirtschaft die Oberhand gewinnen, angefangen beim Einzelhandel bis hin zu neuen Rohstoff-Investitionsprojekten.
– Die Lähmung einer Reihe von Branchen des Maschinenbaus, insbesondere Flugzeugbau, Werkzeugmaschinenbau und Bau landwirtschaftlicher Maschinen. Neben negativen Folgen für die Wirtschaftsstruktur wird dies zur Vernichtung von drei Millionen Arbeitsplätzen führen.
– Die Systemkrise der Rüstungsindustrie und des daraus hervorgegangenen Hightech-Sektors, der heute noch von den technischen Entwicklungen der Sowjetzeit zehrt, zugleich aber versucht, Technologien der Informationsgesellschaft aus dem Westen zu übernehmen, weil er seit Langem keine eigenständigen innovativen Entwicklungen mehr vorweisen kann.
– Fehlender wissenschaftlicher Nachwuchs führt zum Tod der Wissenschaft. In der Grundlagenforschung arbeitet schon jetzt niemand mehr, der jünger ist als dreißig Jahre.
– Faktischer Verlust der Kontrolle Moskaus über die innere Situation im Nordkaukasus, vor allem in Tschetschenien und Dagestan, wo die Aktivitäten der wahhabitischen und anderer extremistischer Gruppierungen stark zunehmen. Die Kaukasuskrise hängt nicht zuletzt mit einer nie da gewesenen Höhe der Arbeitslosigkeit und dem
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