Briefe aus dem Gefaengnis
führen, bräuchte man einen Lenin oder Stalin oder zumindest einen Trotzki, das heißt Menschen, die felsenfest von ihrem eigenen Recht überzeugt sind, nur ihre Ideologie und die durch sie legitimierte Macht als Motiv haben und die bereit sind, für diese Macht zu töten und zu sterben. Heute gibt es keine solchen Leute im Kreml, und es kann sie auch nicht geben: Die Interessen und Ziele der russischen Führungskräfte sind heute – zum Glück für sie selbst und das restliche Land – zu merkantil und bürgerlich, als dass sie in der Rolle blutiger Scharfrichter und Henker auftreten wollten. Ich sage das, obwohl ich ihnen neun Jahre Gefängnis verdanke.
In den meisten ehemals sozialistischen Staaten sind Mitte
der neunziger Jahre linke Kräfte an die Macht gekommen und brachten die Freiheit mit der Gerechtigkeit in Übereinstimmung. Deshalb kam die Macht in diesen Ländern um die schwere Legitimitätskrise herum, mit der fast alle Revolutionen beginnen. Nur im postsowjetischen Raum hat es keinen rechtzeitigen Linksruck gegeben. Denn die herrschenden Gruppen meinten, sich um eine prinzipielle Diskussion der »nationalen Agenda« herumdrücken zu können, indem sie dem Volk eine Schein-Stabilität vorgaukelten. Das Ergebnis waren die Rosenrevolution 60 , der Majdan 61 und die Tulpenrevolution 62 . Und jetzt, da die aus dem Majdan hervorgegangene ukrainische Regierung die Frage einer Überprüfung der Privatisierung stellt, braucht man sich nicht zu wundern und an den Kopf zu fassen: Wenn
die herrschende Elite die Frage der Legitimität der Privatisierung vor fünf bis sechs Jahren gestellt hätte, wäre es vielleicht gar nicht zu Majdan gekommen.
Ich möchte betonen, dass besagte Legitimierung der Privatisierung keineswegs eine Verstaatlichung der Wirtschaft bedeutet, bei der die großen Unternehmen unter die uneingeschränkte Kontrolle von Bürokraten gelangen, die niemandem Rechenschaft schulden. Im Gegenteil, das Ergebnis einer solchen Legitimierung wird die Entstehung einer stabilen Schicht von Eigentümern sein, die auf Effektivität bedacht sind und im Bewusstsein der Bevölkerung keine Blutsauger, sondern rechtmäßige Besitzer rechtlich geschützter Unternehmen sind. So dass die Großunternehmen den Linksruck nicht weniger brauchen als die Mehrheit des Volks, das die Privatisierung der neunziger Jahre bisher für ungerecht und damit unrechtmäßig hielt. Die Legitimierung der Privatisierung wird die Rechtmäßigkeit des Eigentums und der Eigentumsverhältnisse herstellen, vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte Russlands.
In der nächsten russischen Regierung werden sicher die KPRF und »Heimat« 63 beziehungsweise die Nachfolger dieser Parteien vertreten sein. Die Linksliberalen (»Jabloko«, Ryshkow 64 , Chakamada 65 u.a.) aber müssen sich entscheiden, ob sie sich einer breiten sozialdemokratischen Koalition
anschließen oder weiter eine grollende, politisch sinnlose Außenseiterposition einnehmen wollen. Ich finde, sie sollten unbedingt ein Bündnis eingehen, denn nur die möglichst große Bandbreite einer Koalition, in der Vertreter liberalsozialistischer (sozialdemokratischer) Ansichten eine Schlüsselrolle spielen, kann uns davor bewahren, dass auf dem Höhepunkt eines Linksrucks ein neues, ultra-autoritäres Regime entsteht.
Die neue russische Regierung muss die auf der Tagesordnung stehenden Fragen einer linken Politik lösen, muss die unübersehbare Sehnsucht des Volkes nach Gerechtigkeit befriedigen. Vor allem muss die Legitimierung der Privatisierung in Angriff genommen und in einer Reihe von Bereichen paternalistische Programme und Methoden wieder eingeführt werden. Das gilt selbst dann, wenn der liberale Michail Kassjanow 66 oder ein direkter Putin-Erbe wie Sergej Mironow 67 der nächste Präsident sein sollten. Sonst wird dieser Staat explodieren, die Energie des Protests wird die schwache Hülle der Macht zerreißen.
Für das Schicksal Russlands ist ein Linksruck so notwendig wie unausweichlich. Und Wladimir Putin braucht sich gar nicht besonders anzustrengen, um einen friedlichen Linksruck möglich zu machen. Er muss sich lediglich zu
dem von der Verfassung vorgesehenen Zeitpunkt zur Ruhe setzen und demokratische Bedingungen für die nächsten Wahlen sicherstellen. Nur das garantiert die Aussicht auf eine demokratische Entwicklung des Landes ohne Erschütterungen und drohenden Zerfall.
Linksruck II
»Kommersant«, 11. November 2005
Im Zuge der breiten Diskussion, die mein
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