Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Briefe aus dem Gefaengnis

Briefe aus dem Gefaengnis

Titel: Briefe aus dem Gefaengnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Chodorkowski
Vom Netzwerk:
zum Überleben des Regimes eines gigantischen Bluffs bedurfte. Wir mussten den Eindruck erwecken, als ob wir auf alle Schlüsselfragen der seit 1995 unverändert gebliebenen »nationalen Agenda« eine neue Antwort hätten, machten aber
im wirklichen Leben – da, wo Macht, Eigentum und Geld eine Rolle spielen, – alles wie früher. Dieser Bluff wurde zum Dreh- und Angelpunkt des Projekts »Putin 2000«. Einer weiteren autoritären Strömung, die die direkte logische Folge und Fortsetzung des Projekts »Jelzin 1996« war.
    2005 war der Widerspruch zwischen Erwartung und Realität nicht mehr zu übersehen. Das zeigten die Demonstrationen im Januar gegen die Umwandlung der sozialen Vergünstigungen in Geldleistungen. Obwohl die »Putin-Mehrheit« vom Fernsehen und der beherzten Aufforderung, den Terroristen »den Schädel einzuschlagen«, benebelt war, wurde ihr auf einmal klar, dass sie einfach benutzt wurde, in Wirklichkeit aber niemand vorhatte, die Strategie des Staates zu ändern.
    So dass wir heute immer noch vor denselben unbeantworteten Fragen stehen. Die »nationale Agenda« ist noch immer dieselbe. Aber die Sehnsucht der Menschen nach Gerechtigkeit und Wandel ist stärker und dringlicher. Und 60 US-Dollar für ein Barrel Erdöl können niemanden darüber hinwegtäuschen, dass soziale Unruhen nicht in Zeiten der Wirtschaftskrise auftreten, sondern dann, wenn die Zeit gekommen ist, die Früchte des wirtschaftlichen Aufschwungs zu verteilen.
    Nicht dann, wenn alle mehr oder weniger gleich arm sind, sondern wenn ein Prozent Superreiche und neun Prozent Wohlhabende gegen 90 Prozent Arme und – was noch schwerer wiegt – Erniedrigte stehen. Sind die zwei Millionen Unterschriften, die im Mai und Juni 2005 zur Unterstützung des Generalstreiks der russischen Lehrer gesammelt wurden, etwa kein Beweis dafür, dass die Stabilität im Lande eine llusion und »die Krise herangereift« ist?

    Man sollte auch nicht außer Acht lassen, dass unsere Landsleute heute sehr viel fordernder auftreten als noch vor zehn Jahren. Diese mehrfach betrogenen Menschen werden auf einen neuen Trick nicht so leicht hereinfallen, egal wie verzwickt und ausgeklügelt er ist. Da hat das Wahlkampfteam 2008 noch einiges vor sich.
    Den Spindoktoren im Kreml ist noch klarer als zuvor, dass der Kurs der Regierung nur auf antidemokratische Weise beibehalten werden kann. Bei freien Wahlen würden zweifellos die Linken gewinnen. Deshalb werden die Schrauben angezogen, wird das Fernsehen monopolisiert, das Wahlgesetz mit dem Ziel geändert, alle Parteien auszuschließen, die nicht hundertprozentig von der Präsidialverwaltung kontrolliert werden. Landesweite Referenden werden verboten, damit ja niemand erfährt, welche Ideen und Werte das Volk vertritt.
    Seriöse soziologische Umfragen (darunter auch die jüngste Umfrage des »Lewada-Zentrums« 59 ) lassen keinen Zweifel: Linke Werte liegen vorn. 97 Prozent der Einwohner Russlands sind für unentgeltliche Bildung. 93 Prozent finden, die Rente dürfe nicht unter dem Existenzminimum liegen, 91 Prozent sind für eine uneingeschränkte Rückerstattung der Ersparnisse aus der Zeit vor den Reformen. 81 Prozent sind für die Rückkehr zur Direktwahl der Gouverneure, 59 Prozent für eine Wiedereinführung der Direktmandate. Daraus ergibt sich das Programm der nächsten russischen Regierung: staatlicher Paternalismus und Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit, und zwar beides, nicht entweder oder.

    Das heißt, trotz aller Tricks werden die Linken gewinnen. Und zwar auf demokratischem Weg; in voller Übereinstimmung mit dem erklärten Willen der Mehrheit, so oder so. Ob mit oder ohne beziehungsweise nach den Wahlen. Es wird einen Linksruck geben. Und dann wird die Truppe der Epigonen des jetzigen Regimes ihre Legitimität einbüßen.
    Der Kreml kann sich natürlich der Illusion hingeben, der Lauf der Geschichte ließe sich abermals mit autoritären Mitteln aufhalten. Man müsse nur das Land noch ein wenig eisiger machen, die letzten Zeitungen und Radiosender, die nicht zensiert werden, einstellen, die Konten derjenigen, die nicht gehorchen, sperren und so weiter. Aber das Potenzial für einen postsowjetischen Autoritarismus ist in Russland ausgeschöpft. Erstens, weil das Volk, das die Sperrung seiner Konten nicht fürchtet, weil es keine hat, aufbegehrt und in seiner Wahl nicht den Empfehlungen der offiziellen Medien, sondern seinen ureigenen Interessen folgen will. Zweitens, um ein solches Projekt zu Ende zu

Weitere Kostenlose Bücher