Briefe aus dem Gefaengnis
auf der ganzen Welt gelesenen Werke erreichten allein im Original eine Gesamtauflage von über 40 Millionen. Viele der Romane wurden verfilmt, darunter am bekanntesten »Picknick am Wegesrand« unter dem Titel »Stalker« von Andrej Tarkowski. Boris Strugazki studierte in St. Petersburg an der mathematisch-technischen Fakultät und arbeitete nach seinem Abschluss als Astronom an der Sternwarte in Pulkowo. Seit 1964 ist er freier Schriftsteller.
Über das Verhältnis von Lebensqualität und materiellen Gütern
Sehr geehrter Boris Natanowitsch!
Ich bin seit Langem ein Verehrer Ihres Talents und beneide Sie ein wenig. Nicht um Ihre Fähigkeit, wunderbare literarische Werke zu erschaffen, denn das liegt weit außerhalb meiner Möglichkeiten. Oder könnte man einen fernen Stern etwa um etwas beneiden? Was mich weitaus mehr
beeindruckt, ist Ihre Fähigkeit, die Zukunft vorherzusehen und Probleme vorwegzunehmen, die sich gerade erst am Horizont abzeichnen.
Ich selbst kann ohne falsche Bescheidenheit sagen, dass ich für meinen Bereich einen Zeitraum von fünf bis zehn Jahren prognostizieren kann. Und zwar ganz intuitiv. Aber das können alle erfolgreichen Führungskräfte. Jetzt, wo ich aus bekannten Gründen von meiner gewöhnlichen Arbeit abgeschnitten bin, habe ich versucht, einen Zeitraum von zwanzig, dreißig, vierzig Jahren im Voraus zu überblicken. Und bin dabei auf eine Reihe von Fragestellungen gestoßen, deren Lösung mir nicht klar ist, genauso wenig wie die eigentliche Problematik (und ob es sich dabei wirklich um Probleme handelt).
Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie meine Sicht bewerten und Ihre eigene kritische oder alternative Meinung äußern würden.
Mir scheint, das Problem ausreichender Energieversorgung zeichnet sich bisher erst ansatzweise ab, wird mittelfristig aber das Hauptproblem unserer Zivilisation sein. Eine Lösung ist undenkbar, wenn wir nicht das uns allen in den letzten hundert Jahren anerzogene Konsumdenken verändern, nach dem steigende Lebensqualität mit einer Zunahme an konsumierten materiellen Gütern gleichgesetzt wird.
Das Niveau des Konsums ist derzeit auf dem Erdball extrem ungleich verteilt. Riesiger, eindeutig verschwenderischer Verbrauch und elementarer Hunger existieren nebeneinander.
Es ist klar, dass diese unausgeglichene Situation die Länder
(beziehungsweise Völker) mit einem niedrigeren Konsum veranlassen wird, ihre Situation zu verändern. Gleichzeitig geht aber auch in den überkonsumierenden Ländern die Jagd nach einem noch größeren Verbrauch weiter, weil der Anstieg des (häufig sogar zur Schau gestellten) Konsums nach wie vor das wichtigste Symbol für Erfolg ist.
Selbst wenn man die heutige Bevölkerungszahl zugrunde legt, kann die Erde offensichtlich nicht alle Menschen in dem Ausmaß versorgen, wie es dem derzeitigen Standard der Industrieländer entsprechen würde. Dazu braucht man nur zu wissen, dass der Energieverbrauch eines US-Amerikaners (obwohl energiesparende Technologien berücksichtigt sind) fünfmal so hoch ist wie der eines Chinesen.
Geht man vom jetzigen Niveau der technischen Entwicklung aus, so sind wir also nicht in der Lage, allein die Bevölkerung Chinas (vergessen wir für einen Augenblick Indien und andere) mit einer der wichtigsten Ressourcen, nämlich Energie, in dem Maße zu versorgen, wie es dem heutigen Energieverbrauch der USA entspricht.
Dieses Problem (eines von zahlreichen im Rohstoffbereich) ist nicht mithilfe der langsam zu Ende gehenden Kohlenwasserstoffquellen 72 zu lösen. Die Vorräte reichen einfach nicht. Die Atomenergie ist zwar weniger begrenzt, bringt aber zweifellos andere Nachteile mit sich, und für die nächsten dreißig bis fünfzig Jahre können wir nicht davon ausgehen, dass wir auf diese Technologie in großem Umfang werden zurückgreifen können.
Zum Teil wird die Entwicklung alternativer Energien hier helfen können, allerdings nur, wenn der jährliche Energieverbrauch lediglich um zwei bis drei Prozent ansteigen würde, realistischer ist jedoch ein Anstieg der globalen Nachfrage um ein Vielfaches.
Die Schlussfolgerung liegt für mein Gefühl auf der Hand und ist schon aus diesem einen Beispiel ersichtlich: Wenn es keine begründeten Hoffnungen auf die Erschließung völlig neuer, ökologisch ungefährlicher Möglichkeiten zur Befriedigung bestimmter materieller Bedürfnisse der Menschen gibt, dann müssen diese Bedürfnisse eingeschränkt oder verändert werden. Niemand wird sich damit
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