Briefe aus dem Gefaengnis
2008 immer offener zutage traten.
– Die soziale und nationale Verantwortungslosigkeit der Managerzunft, die moralische Erosion bei denjenigen, die wirtschaftliche Schlüsselentscheidungen treffen. In den letzten 25 Jahren sind die Manager praktisch zu einer eigenen Kaste geworden, die nicht von der Gesellschaft und noch nicht einmal von den Ergebnissen ihrer leitenden Tätigkeit abhängt. Der Horizont der Geschäftsplanung beschränkt sich für solche Manager auf Monate, denn warum langfristig planen, wenn dein persönlicher Erfolg nur von deinem Status, deiner Position in der Hierarchie und dem Eindruck, den deine Person und dein Quartalsbericht machen, abhängt und nicht von den objektiven sozioökonomischen Ergebnissen deiner Tätigkeit und schon gar nicht von deren mittel- und langfristigen Folgen?
– Die unkritische Haltung der Eliten gegenüber scheinbar bewährten Wirtschaftstheorien. Wie die Führer der Sowjetunion in den siebziger Jahren die kommende Krise und also die Ursache für den Zusammenbruch der UdSSR verschliefen, so gingen die Theoretiker und Praktiker des neoliberalen Modells, das in den Achtzigern und Neunzigern den Sieg davongetragen hatte, zu Beginn des neuen Jahrtausends davon aus, dieses Modell erschöpfe sich nicht und sei trotz einzelner Unannehmlichkeiten krisenfest. Dadurch wurde über fundamentale
Gesetze nicht nur wirtschaftlicher (beispielsweise den zyklischen Charakter von Entwicklungen), sondern auch historischer Prozesse hinweggesehen. Jede Theorie, jedes Modell überlebt sich zu einem bestimmten Zeitpunkt, nur um den Weg zu bereiten, damit der erst gestern besiegte Vorgänger sich auf einem neuen historischen Niveau etablieren kann.
– Die Hoffnung auf die unbegrenzte Ausbeutung leicht verfügbarer Rohstoffe, vor allem der Kohlenwasserstoffe. Diese Prioritätensetzung führte zu einem drastischen Anstieg des Preises für Energieträger, zu einer deutlichen Umlenkung des Kapitals in Öl und Erdgas exportierende Länder und zu einem überproportionalen Wachstum reiner Rohstoffökonomien (also per se nicht innovativer, prinzipiell schwacher und extrem von äußeren Faktoren abhängiger Ökonomien) in der Weltwirtschaft.
Die Welt steht heute zum Teil vor ähnlichen Problemen wie F.D. Roosevelt Ende der zwanziger Jahre. Natürlich gibt es auch gewichtige Unterschiede. Die Welt der Roosevelt-Zeit war eine Ansammlung regionaler Projekte, und im Einklang mit der Monroe-Doktrin 71 wollte das Amerika jener Zeit seinen Einfluss nur in der westlichen Hemisphäre ausdehnen. Die heutige Welt ist global, und deshalb wurde sie zur Geisel der Wallstreet-Probleme. Jede kleinste Bewegung, ja Absicht der amerikanischen Regierung hat eine Flut von Folgen, und zwar praktisch überall, außer vielleicht
in solch absolut isolierten Ländern wie Nordkorea. Die Welt ist demnach nicht polyzentristisch und erst recht nicht ohne Zentrum, sie ist nach wie vor auf die USA ausgerichtet. Trotz aller ökonomischen, politischen, militärischen und intellektuellen Probleme, die Amerika heute hat.
Selbsttäuschungen, insbesondere über die gegenwärtige Weltwirtschaftsordnung, sind deshalb gefährlich, weil sie falsche Entscheidungen nahelegen. Erstrebenswerter Wandel dagegen würde ernsthafte und langfristige Anstrengungen und Ausgaben nötig machen.
Auf die globale Krise wird zweifelsohne eine globale Perestroika folgen müssen. Wir wollen wie vor zwanzig Jahren von einer Perestroika sprechen, weil dieser russische Begriff uns die Sache verständlich und erklärbar macht. Es ist kein Zufall, dass die Finanzkrise, die sich im September dieses Jahres zugespitzt hat, zu einem unmittelbaren Anstieg der Popularität von Obama geführt hat, der für die Wähler der USA mehr oder weniger bewusst die Idee einer Perestroika verkörpert (»Change we can believe in«) und in gewisser Weise als eine amerikanische Parallele zu Gorbatschow in der Mitte der achtziger Jahre betrachtet werden kann.
Die Experten haben eindeutig recht mit der Feststellung, dass die dreißig Jahre der Dominanz liberaler Ideen an ihr Ende gekommen sind. Ja, es stimmt, zu Beginn der achtziger Jahre sind in den USA und Großbritannien Politiker an die Macht gekommen – ich meine Ronald Reagan und Margaret Thatcher –, die sahen: Der »Realsozialismus« war ökonomisch, politisch und sozial nicht konkurrenzfähig. Die Existenz zweier Blöcke würde also nicht ewig währen, man konnte den Kalten Krieg gewinnen. Und zwar,
indem man sich auf den
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