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Briefe aus dem Gefaengnis

Briefe aus dem Gefaengnis

Titel: Briefe aus dem Gefaengnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Chodorkowski
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der allgemeingültige Humanismus als Grundlage der Moral, mitsamt dem ganzen »Konsumdenken« (von dem Sie sprechen). Überall wird eine autoritäre Ära anbrechen, mit einem System von Gutscheinen für Waren, Lebensmittelkarten und Abkommandierungen der Bevölkerung zu Arbeitseinsätzen. Von heute auf morgen wird die Erde auf das Niveau des Energieverbrauchs des 19. Jahrhunderts (des Jahrhunderts des Dampfs und der Elektrizität, als es viel Dampf und wenig Elektrizität gab) zurückfallen. Und wahrscheinlich wird eine Zeit lokaler Kriege anbrechen: um die Ölfelder und um Trinkwasser.
    Bemerkenswert ist, dass zwei Drittel der Menschheit davon gar nichts merken werden. Weder in Afrika noch in einem Großteil Südamerikas oder in Asien werden sich Niveau und Qualität des Lebens dadurch großartig ändern. Es wird keine globale Tragödie eintreten. Lediglich die Tragödie der »satten Milliarde«.
    Was Sie zu den schwedischen Versuchen der Änderung des Konsumdenkens schreiben, ist interessant, ja rührend, aber ich halte diesen Weg für völlig exotisch. Ich bin nicht davon überzeugt, dass in Schweden etwas dabei herauskommt, worüber es sich zu sprechen lohnt, aber ich bin mir völlig sicher, dass dieser Weg weder für die USA noch beispielsweise England und schon gar nicht für uns infrage kommt. Nein, freiwillige Versuche, sich einer neuen Lebensweise
anzupassen, haben meiner Meinung nach keinerlei Perspektive. Wir werden die ganze Bandbreite der Güter bis zum Letzten auskosten, bis man uns erklärt, dass eine Tankfüllung die Hälfte unseres Gehalts kostet, und auch dann werden wir für alle Fälle erst einmal ordentlich aufs Gaspedal drücken, bevor wir aufs Fahrrad umsteigen. (Ich habe nie von einem Auto gehört, das bei uns herumstand, nur weil der Benzinpreis bei uns so hoch ist wie in den USA, während die Löhne wie in Burkina Faso sind.)
    Vor diesem Schicksal kann uns nur die Atomenergie bewahren. (Die Natur hält noch andere gewaltige Energiequellen bereit: Wir sehen, wie sie in den Zentren einiger Galaxien funktionieren, aber keiner durchschaut das wirklich und hat, soviel ich weiß, auch nur die mindeste Ahnung davon, um was für Quellen und um welche Energie es sich dabei handelt.) Was die Atomenergie betrifft, so stockt die Entwicklung seit etlichen Jahren. Ich denke manchmal sogar, dass sie in Wahrheit schon seit langem bewusst vernachlässigt wird, was von irgendwelchen cleveren Politikern aber sorgfältig vertuscht wird, damit der Besitzer funktionierender Atomenergie sich dann beim Ausbruch der Energiekrise zum »Herrscher der Welt« aufschwingen kann. Das sind natürlich Phantasien, aber mir ist aufgefallen, dass man in den letzten Jahren ganz aufgehört hat, über die Atomenergie zu sprechen und zu schreiben (ähnlich wie das Ende der vierziger Jahre mit der Uranspaltung der Fall war). Doch selbst wenn man Verschwörungstheorien beiseitelässt, ist klar: Um die Atomenergie steht es schlecht. Es will einfach nicht klappen. Und wird auch in nächster Zukunft nicht gelingen. Das wäre aber nötig, denn die Zeit ist knapp.
    Von der Ökologie will ich nicht sprechen. Das hat vorläufig
noch Zeit. Die Natur wird noch hundert Jahre aushalten. Die meisten Verschmutzungen sind Gott sei Dank reversibel. Hauptsache, es gibt Energie. Schon wieder Energie. Es dreht sich alles um die Energie.
    Ich weiß nicht, ob ich mich für einen Pessimisten halten soll. Einerseits ist das oben gezeichnete Bild nicht besonders angenehm und wohl unausweichlich. Andererseits ist die Menschheit in jedem Fall »zum Überleben verurteilt«. Sie ist eine zu leistungsfähige, zu stabile, zu widerstandsfähige Struktur, als dass man ihre irreversible Zerstörung befürchten müsste. In dieser Hinsicht bin ich Optimist. Entschuldigen Sie diese Formulierung, denn bekanntlich ist ein Optimist nur ein schlecht informierter Pessimist. (Mark Twain hat das noch mehr auf die Spitze getrieben und gesagt: »Das 20. Jahrhundert unterscheidet sich vom 19. dadurch, dass im 19. Jahrhundert die Worte ›Optimist‹ und ›Dummkopf‹ nicht synonym waren.« Diese Aussage stammt wohl aus dem Jahre 1908. Was sollen wir da erst heute, im Jahre 2008, sagen?)
    Wie dem auch sei, ich habe mich mit der düsteren Prognose abgefunden. Vielleicht, weil ich diese Zeiten nicht mehr erleben werde. Oder weil mir unser Land heute mehr Sorge macht als die drohende Energiekrise. Es kann einem schon schlecht werden, wenn man wieder in die verfluchte Welt

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