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Briefe aus dem Gefaengnis

Briefe aus dem Gefaengnis

Titel: Briefe aus dem Gefaengnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Chodorkowski
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zurückkehren soll, von der man gedacht hat, dass sie für immer der Vergangenheit angehört. Sozialer Optimismus wird unweigerlich bestraft. So viel ist sicher.
    Lieber Michail Borissowitsch! Wie angenehm es war, mich mit Ihnen zu unterhalten. Ich hoffe, das war nicht unser letztes Gespräch. Ich wünsche Ihnen Gesundheit, Geduld und Erfolg!

    Über die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit
    Sehr geehrter Boris Natanowitsch!
    Vielen Dank für Ihren Brief. Ich habe, glaube ich, alles verstanden, was Sie gesagt haben. Da ich Erfahrung mit der Lektüre Ihrer Bücher habe, habe ich Ihren Brief mit Unterbrechungen wieder und wieder gelesen.
    Ich bin nicht einverstanden mit Ihrer Äußerung, dass es keinem der Science-Fiction-Schriftsteller gelingt, die Zukunft vorherzusagen. Ihrem Bruder und Ihnen ist das sehr wohl wiederholt gelungen. Als Sie »Welten entworfen haben, in denen Sie gern leben würden, oder Welten, in denen Sie auf keinen Fall leben möchten«, haben Sie die wirkliche Zukunft mehr als einmal getroffen. Als wir uns später in dieser Zukunft vorfanden, konnten wir uns von Ihrer Weitsicht überzeugen.
    Ich bin völlig mit Ihnen einig, dass die Energiekrise und die ökologische Krise die beiden Hauptgefahren der Menschheit darstellen. Sie sind zwar nicht identisch, hängen aber eng miteinander zusammen, obwohl nur wenige das heute verstehen. Die Menschheit lebt zu hektisch; sie schafft es nicht innezuhalten, um die brisanten Probleme der Zukunft zu bedenken. Auch mit Ihrer Ansicht, dass die Menschheit nicht untergehen wird, wenn man den Menschen als biologische Gattung und nicht als Gesamtheit verschiedener Zivilisationen, die auf der Erde leben, betrachtet, bin ich einverstanden.
    Sie schreiben: »Mit der Atomenergie will es nicht klappen, und eine Alternative gibt es nicht«? Doch, sowohl die Atomenergie als auch eine Alternative (Sonnenbatterien
mit einem Wirkungsgrad von mehr als 40 Prozent und so weiter) sind machbar, nur ist das sehr teuer (genauer: kapitalaufwendig). Im Grunde genommen ist es ein Projekt vom Ausmaß des »Manhattan-Projekts«. Die jährlichen Kosten sind vergleichbar mit dem Verteidigungshaushalt eines Landes wie den USA. Dies wird man sich in nächster Zeit wohl kaum erlauben können.
    Bezweifeln möchte ich Ihre Worte, dass die Mehrheit der Menschen (außerhalb der Länder der »goldenen Milliarde«) die Katastrophe der Energiekrise gar nicht bemerken wird. Leider werden es alle zu spüren bekommen, das zeigt schon die heutige Wirtschaftskrise. Die Globalisierung ist zu weit fortgeschritten; was in einem Teil der Welt geschieht, wirkt sich auch auf den Rest aus. Obwohl Sie sicher recht haben in dem Punkt, dass nicht alle, sofort und in gleichem Ausmaß von der Katastrophe betroffen sein werden.
    Eingehen will ich auf Ihre Voraussage, die mich am meisten schreckt: Die Welt wird autoritärer und weniger human werden. Und auf Ihre Äußerung, wie widerlich es ist, in einen für immer der Vergangenheit angehörenden Albtraum zurückkehren zu müssen.
    Auch mich widert das an. Aber mich verlässt der soziale Optimismus, von dem Sie schreiben, trotzdem nicht. Ich hoffe inständig, dass Ihre Vision nur von relativ kurzer Dauer sein wird, dass die dunklen Wolken jetzt am dichtesten sind, wir aber später – und sei es in zehn bis zwanzig Jahren – doch allmählich wieder ans Licht kommen werden.
    Mit »wir« meine ich Russland. Die restliche Welt befindet sich heute vielleicht noch nicht auf dem Tiefpunkt, obwohl die Neokonservativen getan haben, was sie konnten.
Ich hoffe trotzdem, dass die Krise bei ihnen weniger stark ausgeprägt sein wird als bei uns.
    Vielleicht wird es uns ja in einem bestimmten Augenblick sogar besser gehen als ihnen?
    Mir liegt viel daran, an etwas Positives glauben zu können.
    Sehr geehrter Boris Natanowitsch, ich schicke Ihnen anbei meine Notizen zum Gleichgewicht von Freiheit und Sicherheit. In gewisser Hinsicht hat Ihr Brief schon eine Antwort auf dieses Problem gegeben, aber es ist jetzt von größter Aktualität. Sowohl in Russland als auch im Westen.
    In den letzten Jahren sind wir alle Zeugen einer Revision der verbürgten Ansichten zu diesem Problem in den Ländern des Westens geworden (wenn man sie denn als verbürgt betrachten kann). Auch wenn man auf die eingetretenen Veränderungen nicht im Einzelnen eingeht (sie sind bekannt und liegen auf der Hand), müsste man meiner Ansicht nach klären, wo und wie die neue Grenze zwischen den Rechten des

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