Briefe aus dem Gefaengnis
Unternehmen, was wiederum die Basis für einen zukünftigen Rechtsruck liefert.
Einschränkungen der Bewegung von Kapital, Waren und Arbeitskraft zwischen den großen Wirtschaftszonen zur Verhinderung plötzlicher katastrophaler Turbulenzen. Ich gehe davon aus, dass der Kampf gegen die illegale Einwanderung, der aus unerfindlichen Gründen in Russland als radikaler Nationalismus gilt, sich in den nächsten Jahren an verschiedenen Punkten der Welt verstärken wird, schon allein wegen der steigenden Arbeitslosigkeit auch bei der »goldenen Milliarde« und der Bereitschaft vieler Einwohner der entwickelten Länder, zu weniger angesehenen Jobs zurückzukehren.
Eine Konzentration der nationalen Regierungen und zwischenstaatlichen Regulatoren auf funktionierende soziale »Sicherheitspolster«. Diese können extreme, für die Welt als Ganze immer bedrohlicher werdende Einbrüche des Lebensstandards von einzelnen Menschen und ganzen Völkern auffangen. Das Problem der an die nächste Generation weitergegebenen Abhängigkeit von Sozialleistungen und der Verelendung der Unterhaltsempfänger wird sich verschärfen und erfordert bereits jetzt Lösungen.
Die wachsende Bedeutung des menschlichen Faktors und der Intelligenz in der Wirtschaft, die verschiedene objektive Trends nicht mehr ohne ein subjektives, kreatives und kritisches Herangehen nutzen kann. An die erste Stelle der Voraussetzungen für eine wirtschaftliche Entwicklung rückt die menschliche Fähigkeit zu kreativer Arbeit und damit die Einrichtung politischer und
sozialer Bedingungen, die es erlauben, diese Fähigkeit zu verwerten.
Ein Zurücktreten des Gewinnstrebens, des berüchtigten wirtschaftlichen Egoismus. Umstellung der Staaten und (in geringerem Ausmaß) großer Unternehmen auf die Entwicklung und Finanzierung strategischer Projekte, die selbst in mittelfristiger Perspektive nicht gewinnbringend sind, sich aber sozial lohnen, also langfristig Sinn haben.
Wo wird Russland bei einer neuen Perestroika stehen? Die Antwort muss von der herrschenden Elite kommen, wenn sie bei ihrem Ziel bleiben will, die Verantwortung für die notwendige und unausweichliche Reformierung unseres Landes zu übernehmen.
Rechtfertigung des Liberalismus
Heißt das, die Krise wird dazu führen, dass der Liberalismus in der Welt zusammenbricht und vergessen wird? Sicher nicht.
Anfang der achtziger Jahre war der Liberalismus qualitativ wirkungsvoller als der Komplex sozialistischer Ideen und Praktiken. Der Sieg des Liberalismus brachte enorme geopolitische und wirtschaftliche Veränderungen mit sich und ermöglichte es beispielsweise Francis Fukuyama, seine bekannte Prognose vom »Ende der Geschichte« und dem »letzten globalen Menschen« zu formulieren.
Jetzt, am Ende des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts, wird der Neosozialismus siegen. Dabei handelt es
sich nicht mehr um den totalitären Sozialismus der Welt von Jalta, sondern er wird viel vom Neoliberalismus Reagans und Thatchers haben. Der Prozess der Globalisierung wird sich etwas verlangsamen, aber nicht anhalten. Die »goldene Milliarde« muss sich von ihren Hoffnungen auf einen weiteren Anstieg ihres Konsums verabschieden, wobei die hohen Standards des Verbrauchs, wie sie sich am Ende des vorigen Jahrhunderts herausgebildet haben, im Wesentlichen richtungsweisend bleiben werden. Das Streben nach politischer Freiheit und freiem Wettbewerb von Menschen und Ideen wird nicht verschwinden. Die Vorhersage von Fukuyama hat sich nicht bewahrheitet, aber seine Einschätzungen waren in vieler Hinsicht richtig; das lässt sich nicht bestreiten, jetzt, wo wir in die Phase eines weltweiten Linksrucks eintreten.
Und am nächsten Wendepunkt der Geschichte – wahrscheinlich in 12 bis 15 Jahren –, wenn der Neosozialismus die Verwehungen der weltweiten Krise aufgeräumt und die Weltwirtschaft harmonisiert haben wird, wird eine neue Phase der Liberalisierung kommen. Dem Linksruck wird ein Rechtsruck folgen. Doch das steht erst auf der Tagesordnung von morgen …
Verfasser: Häftling, früher Besitzer
des Ölkonzerns Jukos
Der Briefwechsel Boris Strugazki und Michail Chodorkowski
Fantastische Briefe – Dialog über die Weltordnung
Boris Natanowitsch Strugazki, geboren 1933 im heutigen St. Petersburg, gehört mit seinem verstorbenen Bruder Arkadi (1925 – 1991) zu den erfolgreichsten russischen Autoren der Nachkriegszeit. Die Strugazkis begründeten und prägten die sowjetische Science-Fiction- und Fantasy-Literatur. Ihre
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