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Briefe aus dem Gefaengnis

Briefe aus dem Gefaengnis

Titel: Briefe aus dem Gefaengnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Chodorkowski
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Individuums und der Sicherheit der Gesellschaft, zwischen den Rechten eines Volkes auf Selbstbestimmung und den Rechten des Staates auf Erhalt seiner territorialen Integrität und so weiter verlaufen soll.
    Wie soll man den objektiv wachsenden Gefahren begegnen? Der traditionelle Weg, erzwungen durch die Notwendigkeit erhöhter Sicherheit, besteht in der Einschränkung der persönlichen Freiheit.
    Es gibt Situationen, in denen das nicht zu vermeiden ist. Anders kann man das wichtigste Menschenrecht, das Recht auf Leben, womöglich nicht sicherstellen. Es kommt dabei aber sehr darauf an, von wem und wie die Einschätzung
getroffen wird, wie weit die Freiheit einzuschränken ist und wie weit die Sicherheit dadurch steigt. Und für wen.
    Es lässt sich nicht leugnen, dass es außer objektiven Voraussetzungen für die Notwendigkeit von Veränderungen im Bereich der persönlichen Freiheit auch subjektive Interessen der Bürokratie gibt, die in die gleiche Richtung zielen. Die Wahrscheinlichkeit, dass auch ein »Teil der objektiven Voraussetzungen« von eben dieser Gruppe manipuliert wird, um einen Vorwand für die Einschränkung der Freiheit zu haben, ist groß. Die klassische Variante der Geschichte sieht folgendermaßen aus: Die Schrauben werden angezogen, das System büßt seine Elastizität ein, die Folgen sind Zusammenbruch und Anarchie, und dann wird auf den Trümmern etwas Neues aufgebaut. So hat es sich in unserer Geschichte mehrfach zugetragen, und das nicht nur in unserer Geschichte. Der Unterschied ist: In einer globalen Wirtschaft ist der Zusammenbruch womöglich weltweit, und es gibt niemanden, der ihn verhüten kann.
    Wo und wie den Prozess aufhalten? Kann Russland eine positive Rolle spielen und einige Vorteile seiner jungen Entwicklung ins Spiel bringen?
     
    Lieber Michail Borissowitsch!
    Ich kann nicht behaupten, dass mich die Neuordnung der Welt anlässlich des Verlusts der (gewohnten) Sicherheit und der gestiegenen Gefährdung der sozialen Systeme sonderlich beunruhigen würde. Im Grunde genommen erwartet uns nichts grundsätzlich Neues und Unbekanntes: entweder Kriege (und zwar ausschließlich regionale, denn globale würden das Ende der Zivilisation bedeuten) oder Vorkriegs- und Zwischenkriegszustände, die durchaus
brenzlig sein können (falls der Terrorismus sich gefährlich verschärft).
    Sowohl auf den ersten als auch auf den zweiten Fall ist unsere Zivilisation durchaus vorbereitet (»Das kennen wir bereits!«), und ich sehe absolut keine Notwendigkeit »einer neuen Grenzziehung zwischen den Rechten des Individuums und der Sicherheit der Gesellschaft, zwischen den Rechten eines Volkes auf Selbstbestimmung und den Rechten des Staates auf Erhalt seiner territorialen Integrität …« Zwar wird es zu dieser neuen Grenzziehung und einem neuen Verhältnis zwischen »Freiheit und Sicherheit« bestimmt kommen, und zwar in jedem Land auf seine Weise, je nach der herrschenden Mentalität der über die Gesetze entscheidenden Mehrheit, entsprechend der Willensbildung von Millionen Einwohnern und in der gewählten Richtung. In Russland beispielsweise wird das so aussehen: unbedingte Unterordnung unter den Willen der Obrigkeit, völliger Verzicht auf Eigenbeteiligung am System »Freiheit und Sicherheit« in der rührenden Überzeugung, je größer die Freiheit, desto geringer die Sicherheit. Verantwortlich für die Freiheit ist bei uns bekanntlich der Polizist (ein verhasster, gerissener, käuflicher Typ, aber der einzige Zuverlässige, weil er für diesen Posten eingesetzt ! ist). Wir wissen, was die Miliz taugt, wir hassen sie, aber wenn es ernst wird, rufen wir nach der Miliz – appellieren nicht an die Bürger, sehen uns nicht nach Kameraden um, nach denen, die zu uns gehören, sondern rufen nach der Miliz, denn sie und nur sie ist dazu verpflichtet, uns (nach den Anweisungen der Obrigkeit) zu schützen. Alle anderen sind nicht dazu verpflichtet!
    Ich habe nur eine schwache Vorstellung von einem durchschnittlichen
»Westler«. Soll ich ihn mir so vorstellen, wie ich ihn aus Büchern kenne? Ich denke, die russische postfeudale Mentalität ist für ihn weniger typisch. Und auch die Obrigkeit ist in seinen Augen nicht unbedingt der Inbegriff der Gesetzlichkeit. Die Obrigkeit wird mit so einem Bürger wohl mehr Ärger bekommen, und ein mehr oder minder rigides Sicherheitssystem wird sich nicht ganz einfach durchsetzen lassen. Aber ich sehe auch im Westen keine prinzipiellen Hindernisse dafür.
    Ich würde

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