Briefe aus dem Gefaengnis
die Vielfalt der sozialen Umgestaltungen, die durch die Notwendigkeit der Etablierung eines neuen Systems von »Freiheit und Sicherheit« hervorgerufen sind, nicht überschätzen wollen. Ich habe den Eindruck, dass sich in der Gesellschaft eigentlich nichts grundlegend Neues abspielen wird. Wir werden uns einfach an die neue Lebensweise anpassen, wo mal hier mal da ein (unbekanntes) Café in die Luft geht oder in einer Schule aus heiterem Himmel Geiseln genommen werden … Das ist natürlich schrecklich, grauenhaft, wie lange soll diese Schweinerei noch dauern!, aber die täglichen Angelegenheiten sind so dringend, und das Epizentrum der Ereignisse ist so weit entfernt … Und all das geschieht ja nicht zum ersten Mal, und bisher sind wir immer mit einem blauen Auge davongekommen: die Spezialeinheiten haben die Sache in die Hand genommen … oder die OMON 74 ? Ja, die Opfer, das ist schrecklich, aber auch das hatten wir ja schon: in Beslan zum Beispiel hat es Hunderte von Opfern gegeben…
Dieses resignative Zähneknirschen wird zu unserer häufigsten
Reaktion auf JEGLICHE Schrecken des Terrorismus werden, und das leider auch auf einen (letztendlich) unausweichlichen Anschlag auf ein Atomkraftwerk. Wir gewöhnen uns (mit Leichtigkeit) an die längsten Kriege; wir haben uns an die täglichen Zahlen der Hungertoten in Afrika gewöhnt; wir haben uns an die Flugzeugabstürze gewöhnt und daran, dass der Straßenverkehr mehr Leute umbringt als ein richtiger Krieg; ein Fall wie Tschernobyl kann uns noch ein wenig aus der Ruhe bringen, aber wie viele solcher Vorfälle braucht es noch – zwei oder drei – , damit wir sie gleichmütig hinnehmen?
Die Menschheit kann wohl nicht anders. Sie ist zu groß. Sie ist zu sehr mit alltäglichen Dingen beschäftigt, als dass sie ein winziges Stückchen ihrer Seele für etwas »Entlegenes«, »Unpraktisches«, für etwas anderes als »Essen, Trinken, Küssen« übrig hätte: für Mitleid, Mitgefühl, Barmherzigkeit. Und sie hat Geduld, eine teuflische Geduld! Diese Eigenschaft kann man ihr nicht absprechen. Sie findet sich mit allen Unannehmlichkeiten ab, die einen beliebigen (nicht zu sehr exponierten) Teil ihrer selbst heimsuchen, egal ob es sich um ein Massensterben, eine Hungersnot oder einen Anschlag des internationalen Terrorismus handelt. Die Sozialpsychologen können vielleicht sagen, welcher Teil dieses schwerfälligen Körpers gereizt, angegriffen, verwundet sein muss, damit dieser Köper aus der Ruhe kommt, aufhört, sich wohl zu fühlen, und das Bedürfnis verspürt, den früheren Status quo wiederherzustellen.
Und ich fürchte, das ist nicht gut und nicht schlecht, sondern es ist einfach so, und fertig. Wir haben keine andere Menschheit in der Hinterhand, sondern nur diese. Sie ist bereit, wenn es sein muss, für ihr eigenes Kind zu sterben,
ja, von wegen ihr Kind, sie ist schon bereit, für die Vierzigstundenwoche zu sterben, aber sie ist absolut nicht dazu imstande, einen Finger zu krümmen für jemanden, der weiter weg ist.
Man kann sich leicht Länder vorstellen, die liebend gern von dem »legalen« Recht Gebrauch machen, den Druck zu verschärfen, die das schnell, geschickt und mit dem schweigenden Einverständnis ihrer Bevölkerung durchziehen. Genauso leicht kann man sich Staaten vorstellen, die versuchen, die Sicherheitsmaßnahmen auf ein Minimum zu begrenzen, oder sogar ganz ohne sie auskommen.
Was unser Russland mit seinem Entwicklungsrückstand betrifft, so wird es sich bei diesen Prozessen kaum etwas Neues einfallen lassen. Russland steht jetzt (zum x-ten Mal!) erneut am Scheideweg, an einer Weggabelung, und eine solche Lappalie wie die Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen (ein für uns ganz gewöhnlicher Vorgang, der praktisch unbewusst, automatisch, fast instinktiv verläuft) spielt keinerlei Rolle in seinem politischen Leben.
Nach einer Unterbrechung von hundert Jahren müssen unsere Machthaber das Recht des »Pöbels« auf einen zwar kleinen, aber ganz bestimmten Teil der Güter anerkennen, die sich die Machthaber selbst ganz selbstverständlich leisten können. Es hat Generationen gebraucht und eines völligen psychologischen Umbruchs bedurft, bis einige Selbstverständlichkeiten (wieder) Teil des Bewusstseins der arroganten und abgehobenen Schicht der Machthaber wurden. So zum Beispiel, dass es ein Recht auf eine eigene Wohnung gibt. Ein Recht, Geld zu verdienen und es auszugeben. Ein Recht, die Arbeit zu wechseln, und ein Recht, zu wählen,
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