Briefe aus dem Gefaengnis
Föderation,
Untersuchungsgefängnis (Siso Nr. 99/1), Moskau
Unsere Justiz – wie ich sie sehe
»Nesawisimaja Gaseta«, 3. März 2010
Meine Sicht unseres Justizsystems wäre allzu schlecht, basierte sie nur auf den Gefühlen und der Erfahrung einer Person, die in seine Mühlen geraten ist. Schließlich bin ich ein etwas anderer Gefangener. Meine Abenteuer laufen unter »spezieller Kontrolle« wie mein Anwalt Juri Schmidt zufällig bei einer Sitzung des Obersten Gerichtshofs der Russischen Föderation festgestellt hat. Und zwar von Anfang an. Audio, Video und menschliche Kontrolle. Nie wurden normale Obdachlose, die eine Auszeit nehmen vom harten Leben auf der Straße, gemeinsam mit mir in eine Zelle gesteckt.
Was ich jetzt erzählen werde, ist das Ergebnis der Analyse eines Menschen (und ist nicht jeder Manager eines großen Unternehmens unweigerlich Analyst?), der sich über einen Zeitraum von fast sieben Jahren immer wieder in dumpfe Ränkespiele unserer Gesetzesvollstrecker verstrickt gefunden hat – in ihre Ränkespiele untereinander und gegen die russischen Bürger.
Die erste und wichtigste Sache, die ich bereits im dritten Monat meiner Gefangenschaft verstanden hatte, war: Die Vorstellungen, die wir uns »draußen« von der Polizei, den Gerichten und der Strafvollzugsbehörde (FSIN) als voneinander unabhängigen Strukturen machen, sind absolut unzutreffend. Wir wissen gar nichts über das System, bis wir selbst in seine Fänge geraten.
Das System ist in seinem Wesenskern ein Unternehmen, dessen Geschäft die legalisierte Gewalt ist. Dieses Unternehmen ist riesig, mit einer unglaublichen Menge interner Konflikte und widerstreitender Interessen. Das Problem dieses Unternehmens, in dem sowohl anständige Menschen als auch zwielichtiger Abschaum arbeiten, ist nicht das Menschenmaterial, sondern seine Organisationsprinzipien.
Das System ist das Förderband einer gigantischen Anlage, die einer eigenen Logik folgt und die im Allgemeinen keiner Regulierung von außen unterliegt. Wenn Sie als Rohmaterial auf dieses Förderband gelangen, dann wartet am Ende dieses Bandes immer eine Kalaschnikow, also ein Schuldspruch auf Sie. Jedes andere Ergebnis bei der Verarbeitung des Rohmaterials wird als fehlerhaftes Produkt betrachtet. Daher sollte man wiederum allgemein den Gedanken aufgeben, dass irgendjemand irgendwo tatsächlich versuchen würde, den Dingen auf den Grund zu gehen, den Fall zu verstehen. Nein – sie werden Sie nicht unbestraft laufen lassen, nur weil Ihre Schuld nicht bewiesen wurde oder gar nicht existiert. Das ist das übergeordnete Prinzip, nach dem das System arbeitet. Sein Ziel ist es nicht etwa, die Wahrheit zu finden, sondern die eigene Agenda umzusetzen. Was ist der Mensch? Nur ein Objekt, Material, notwendig nur für statistische Zwecke.
Dieses »Förderband« arbeitet in drei Phasen:
1. Die operative Phase. Hier wird ein wahrer oder erfundener Hinweis auf ein Verbrechen geliefert und eine schuldige Partei ausgemacht. Es kommt allerdings häufiger vor, dass der Weg umgekehrt verläuft: Zuerst wird
die schuldige Partei ausfindig gemacht, und dann erfolgt die Suche nach etwas, das als Verbrechen verpackt werden kann.
Die Untersuchung eines Wirtschaftsverbrechens (ich spreche hier nicht über gewöhnliche Straßenkriminalität) beginnt in den seltensten Fällen mit der Klage eines tatsächlichen Opfers. Echte Opfer stehen dem System nur im Wege. Gewöhnlich wird das Verbrechen von den Gesetzesvollstreckern selbst aufgedeckt – oder erfunden. Eines der seltenen Male, als das System tatsächlich auf die Klagen betrogener Bürger reagierte, war der Fall »Mawrodi«. Sergej Mawrodi erhielt für seine »Finanzpyramide« viereinhalb Jahre; er hatte Millionen Russen mit ihren Geldanlagen durch falsche Zinsversprechen in ein Schneeballsystem gelockt. Die Durchschnittsstrafe für eine Person, die für ein Wirtschaftsverbrechen verurteilt wurde und ihre Schuld nicht eingestanden hat, beträgt dagegen zehn Jahre.
2. Die Untersuchungsphase. Hier werden Papiere ausgefüllt und die zugewiesenen Rollen der für (zu Recht oder Unrecht) schuldig erklärten Parteien endgültig bestätigt.
Man muss sich klarmachen, dass das konkrete Individuum dem System als Ganzem gleichgültig ist, das System ist nicht unnötig grausam. Wenn es keine persönliche Anweisung von oben gibt, eine bestimmte Person ins Gefängnis zu werfen, dann kann das Opfer dem System einfach geben, was von ihm verlangt wird (in der Regel 90
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