Briefe aus dem Gefaengnis
Zivilisation wiederzufinden.
Einmal haben wir das bereits erlebt, werden wir es noch einmal erleben?
Der »Pfeil der Geschichte« geht mit großer Wahrscheinlichkeit in eine bestimmte Richtung. So dass die Pessimisten für eine kurze Zeitspanne durchaus recht behalten können, in einer langfristigen Perspektive aber eindeutig den Kürzeren ziehen. Möge ihnen das eine Lehre sein! Denn bekanntlich ist Trübsinn eine der sieben Todsünden.
Ich wünsche Ihnen Erfolg, Michail Borissowitsch, Geduld und Gesundheit.
Modernisierung: Generation M
»Wedomosti«, 21. Oktober 2009
Viele meiner Freunde sind der Meinung, den bekannten Artikel von Präsident Medwedew »Russland, vorwärts!« kommentieren oder einer Polemik unterziehen zu wollen sei ein sinnloses Unterfangen. Sie halten den öffentlich unternommenen Versuch Medwedews, sich an den intellektuell und schöpferisch aktiven Teil der Gesellschaft zu wenden, für Bluff und eine Farce, in der das Staatsoberhaupt nur die klassische Rolle des »guten Polizisten« in einem Schauspiel mit dem Titel »Russische Tandemokratie« spielt. All das solle nur bewirken, dass der eine Teil der Bevölkerung der Russischen Föderation weiterhin Putin liebe, während der andere, sich mit dem ersten nicht überschneidende Teil Medwedew lieben oder ihm wenigstens glauben solle.
Vielleicht stimmt das auch. Oder es stimmt teilweise. Beweise für das Gegenteil habe ich nicht. Umso mehr als es in dem Artikel des Präsidenten mit seiner verlockenden und vielversprechenden Überschrift einige Stellen gibt, die absolut nicht vom Beginn »eines neuen politischen Denkens« im Sinne einer Perestroika zeugen. So ist der Autor des Artikels »Russland, vorwärts!« etwa der Meinung, die Unabhängigkeit des Gerichts bestehe »in einem selbstständigen Verständnis dessen, was der Staat braucht«. (Vielleicht ist damit gemeint, der Richter solle nicht erst auf einen Anruf aus
dem Kreml warten, sondern müsse selbst wissen, welche Entscheidung die Obrigkeit von ihm erwartet.) Obwohl doch die moderne Rechtstheorie eigentlich davon ausgeht, dass das Gericht nur dem Gesetz und nicht dem Staat verpflichtet ist. Und schon gar nicht den Bürokraten und Günstlingen, die sich im heutigen Russland das alleinige Recht herausgenommen haben, sich »Staat« zu nennen.
Jener Teil des Artikels, der die Möglichkeit einer Modernisierung Russlands ohne Abrücken vom autoritären System diskutiert, ist eine Enttäuschung. Der Punkt ist, dass unser autoritäres System vielen wesentlichen humanitären Ansprüchen moderner europäischer Staaten nicht genügt. (Wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, hat der Kreml, egal was er unternahm, um die Demokratie zu beschneiden, nie offiziell verkündet, wir seien Asien. Es war immer von Europa die Rede, selbst wenn ein »anderes Europa« angesteuert werden sollte.) Der Punkt ist vielmehr, dass die berüchtigte »Vertikale der Macht« ungeheuer ineffektiv ist. Das sehen wir allein daran, wie die bürokratische Maschine in den letzten Jahren funktioniert oder richtiger: eben nicht funktioniert. Einen so großen, komplizierten und inhomogenen Raum wie Russland kann man nicht mit solch archaischen Mechanismen verwalten, die schon in den Grenzen der Moskauer Innenstadt nicht zu den geplanten Ergebnissen führen. Und schon gar nicht unter den Bedingungen einer zwar lenkbaren, aber doch unzweifelhaften Krise, wie sie eine Modernisierung immer mit sich bringt.
Ohne mir zu große Illusionen zu machen, halte ich es doch für sinnvoll, mich auf eine Diskussion des angeschnittenen Problems einzulassen, umso mehr als ich mit einigen Stellen und Passagen des Artikels »Russland, vorwärts!«
durchaus einverstanden bin: etwa mit der klaren Prämisse, dass keine Modernisierung die unermesslichen Opfer an Menschenleben rechtfertigen kann, die sie gekostet hat (Beispiele: Peter der Große, Stalin); mit der recht zutreffenden Beschreibung des gegenwärtigen Zustands der russischen Wirtschaft; mit der Einschätzung, die bestochenen Beamten und die bestechenden Geschäftsleute würden gegen die Modernisierung sein, weil die parasitäre »Pipeline-Wirtschaft« vollkommen in ihr Konzept passt.
Natürlich maße ich mir nicht an, meinerseits eine Version für eine zukünftige Erklärung des Präsidenten zu entwerfen. Deshalb würde ich es erstmal für richtig halten, Dmitri Medwedew nur eine Frage zu stellen, die mir sehr wichtig erscheint: Wenn die politische Entscheidung für eine Modernisierung
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