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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Rosendorfer
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treuer, trotz des Lachens trauriger Freund
    Kao-tai

Einunddreißigster Brief
    (Mittwoch, 15. Januar)
    Lieber Dji-gu, alter Freund.
    In der Zeit, in der ich in dem abscheulichen Ki-tsi-bü war, habe ich selbstverständlich die musikalischen Abende von Herrn Shi-shmi nicht besuchen können. Sie sind in der Zeit, wie mir mein Freund berichtet hat, auch zum Teil ausgefallen. Der Herr, der das Instrument Wa-tsche, und sein Sohn, der das Cheng-lo spielt, sind ebenfalls – der Sitte der Großnasen entsprechend – für einige Tage ins verschneite Gebirge gefahren, um sich im Schnee zu wälzen. Es ist mir zwar unverständlich, daß sich ein gebildeter Mann wie Herr Te-cho, der die Wa-tsche streicht, und sein hochbegabter junger Herr Sohn so einer lächerlichen Sitte wie der des Schneewälzens hingibt; aber es ist eben so, daß selbst Gebildete sich nicht vom Netz der Gebräuche freimachen können. Wenn Gebräuche einmal festgefahren sind, vermögen sie die Vorstellungswelt so zu beeinflussen, daß man sie als unabdingbar hinnimmt. Die Vorstellung vermag dann nicht mehr über sie hinauszudringen. Das ist bei uns nicht anders. Auch wir glauben, ohne Frühjahrs- und Herbstopfer die Welt in Unordnung zu bringen, obwohl wir spätestens seit dem großen Chuang-tzu wissen, daß das alles keinerlei Bedeutung hat. Aber es ist eben so: der Mensch kann nur in einem Geflecht von Sitten, in einem Gefüge von Gebräuchen leben, wenn er sich nicht kalt und einsam gelassen fühlen soll; selbst wenn er die Sitten und Gebräuche gar nicht oder gar nicht immer befolgt. Das ist sehr seltsam. Es erinnert mich an den Geruch, den die Schafe ausströmen und ohne den die Herde nicht zusammenhält.
    Den Ritus des Schneewälzens allerdings befolgen viele Großnasen … Schneenasen hätte ich jetzt fast geschrieben. Auch Herr Shi-shmi frönt ihm. Nur Frau Witwe-Mutter Shi-shmi ist daheimgeblieben, das heißt: in der Wohnung von Herrn Shi-shmi. Sehr bald wird sie abreisen. Dann will sich Herr Shi-shmi meinen Zeit-Kompaß ausleihen. Ich seufze. Es wird nicht mehr zu umgehen sein, daß ich ihn ihm leihe.
    Ausnahmsweise hat die musikalische Vereinigung der Freunde diesmal, das erste Mal nach dem allgemeinen Schneewälzen, nicht am vierten, sondern am dritten Tag der großnäsischen Acht-Tage-Einteilung stattgefunden. Die Himmlische Vierheit wurde diesmal durch eine Dame, die Frau Lo-ho-wen hieß, ergänzt. Die Dame spielte kein gestrichenes Instrument, sondern pfiff. Sie bediente sich dazu eines Rohres ungefähr in der Art eines Kuan (Schalmei). Der Ton war sehr süß klingend und schmeichelte den Ohren. Das Fünf-Instrumente-Stück stammte aus der Erfindung des Meisters, den ich Dir schon einmal erwähnt habe, des jung verstorbenen Mo-tsa. Ich will jetzt nicht in hymnische Worte ausbrechen, weil ich auch damit die Musik, die über alle Maßen herrlich ist, nicht beschreiben kann. In dem Musikstück der Fünfheit von Meister Mo-tsa ordnet sich die Himmlische Vierheit in begleitender Weise dem Kuan unter, das von düsteren Tiefen bis in blaue Höhen den menschlichen Lebenskreis zu durchschreiten scheint. Wenn man eine großartige neue Welt kennenlernt, so wie ich an jenem Abend vor nun schon wieder vielen Monaten die Welt der Musik der Großnasen, so ist der erste Eindruck der gewaltigste. Wenn man, wie ich mir schmeicheln kann, es getan zu haben, weiter eindringt, dann wird die Sache zwar interessanter, man wird kenntnisreicher und sieht die Dinge von verschiedenen Seiten, aber der sozusagen unschuldige Eindruck von der Gewalt des Anfangs ist dahin. Ich wollte, ich dürfte noch einmal im Leben jene Himmlische Vierheit von Meister We-to-feng zum ersten Mal hören. Aber das ist einem für immer verwehrt. Das göttliche Fünf-Stück von Meister Mo-tsa hat mich erreicht, als ich schon in die Kenntnis der großnäsischen Musik eingedrungen war, und das ist gut so, denn entweder – ich wüßte es jetzt im Nachhinein nicht zu sagen – hätte ich es nicht sogleich verstanden, so verstanden, wie ich das Stück von Meister We-to-feng immerhin verstanden habe, oder aber ich wäre vor Ergriffenheit gestorben. Wie gesagt: ich möchte keine hymnischen Worte aneinanderreihen. Nur soviel sei gesagt, daß dieser Meister Mo-tsa wohl der göttlichste aller Meister ist, die ihren Fuß je auf die Erde gesetzt haben. Ich scheue mich nicht, den Ausdruck »göttlich« zu gebrauchen, den ich sonst vermeide. Und die Ordnung der Töne, die er in seinem Fünf-Stück vorgenommen

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