Briefe in die chinesische Vergangenheit
hat, werde ich im Gedächtnis mitnehmen in unsere Welt, und ich verhehle nicht, daß die Erinnerung daran mich stets beglücken wird.
Nach dem Musizieren saßen wir, wie üblich, noch ein wenig beisammen und sprachen über dies und jenes. Vorgestern abend ergab es sich, daß ich neben dem Herrn Te-cho zu sitzen und mit ihm ins Gespräch kam. Er ist zwar von umfangreicher Gestalt, sein Geist aber ist wendig. Das Gespräch wanderte hin und her, und wir kamen auf die Kunst der Malerei zu sprechen. Herr Te-cho merkte, daß ich von der Malerei seiner Welt noch kaum eine Ahnung hatte, und lud mich mit freundlichen Worten ein, mir am nächsten Tag – das war also gestern – einiges davon zu zeigen, denn er habe, sagte er, an dem Tag gerade Zeit.
Ich dachte zunächst, daß er mich in seinen Palast führen würde und daß er vielleicht über eine Sammlung von Kunstwerken verfügt. Das war aber nicht so. Weder hat Herr Te-cho einen Palast noch eine Sammlung von Kunstwerken. Wir gingen in ein großes, ja riesiges Gebäude, das öffentlich zugänglich ist und in dem der Staat eine Vielfalt von Gemälden, Standbildern und anderen Kunstgegenständen für jedermann zur Besichtigung darbietet. Ich halte das für keine schlechte Einrichtung, und man müßte sich ernsthaft überlegen, ob man so etwas in geeignet abgeänderter Form nicht bei uns einführt, denn der Wert für die Bildung des Volkes könnte bedeutend sein. Aber wie immer bei den Großnasen hat das einen Haken: hier ist es der, daß die Großnasen so gut wie keinen Gebrauch von dieser Einrichtung machen. Das sagte mir Herr Te-cho, und ich sah es auch, denn wir beide waren fast allein in dem Gebäude. Herr Te-cho sagte, daß es in der Stadt Min-chen mehrere Kunst-Gebäude gibt, größere und kleinere. Die Menschen von Min-chen gingen aber nicht hinein, denn der Besuch sei freiwillig und keinem Gesetz und keiner Sitte unterworfen. Die Leute von Min-chen gingen nur anderswo, in anderen Städten, in die entsprechenden Kunst-Gebäude, wenn sie aus irgendeinem Grund in einer anderen Stadt seien, während die Leute aus anderen Städten, wenn sie hier in Min-chen weilten, die Kunst-Gebäude hier besuchten. Sehr merkwürdig.
Wiederum will ich mich (und Dich) nicht damit aufhalten, daß ich den Gang durch das Kunst-Gebäude und die Welt, die sich mir dabei erschloß, Schritt für Schritt schildere. Ich fasse das zusammen, was mir als Eindruck verblieb.
Es ist nicht zu leugnen, daß die Großnasen eine gewisse, vielleicht sogar beachtliche Tradition an bildender Kunst besitzen. Es ist allerdings kein Vergleich mit dem Eindruck, den mir ihre Musik gemacht hat. Ihre Bilder sind grob, sehr bunt und zeichnen sich dadurch aus, daß sie nahezu zwanghaft immer bis zum letzten Zipfelchen des Blattes ausgemalt sind. Ich glaube, das sehr genau erkannt zu haben: es ist nicht Geiz um den nicht ausgenutzten Raum, es ist die Sucht, alles zu erfassen. Sie wollen unbedingt immer alles erfassen. Insofern ist die Malerei ein wahrer Spiegel ihres Lebens. Auch wir, zumindest die Gebildeten unter uns, wollen erfassen – vielleicht sogar alles erfassen, obwohl bei uns jeder weiß, daß das nicht geht. Daran glauben die Großnasen nicht. Sie unterliegen dem Aberglauben, daß man eines Tages alles erfaßt haben könnte. »Alles?« habe ich Herrn Yü-len-tzu gefragt. »Was ist alles?« Er wurde verlegen. Ich argumentierte, daß es alles so wenig gäbe wie nichts. Er führte mir dann einige mathematische Begriffe vor, die recht eindrucksvoll waren, aber mir nur zeigten, wie sehr diese von den Großnasen als so exakt betrachtete Wissenschaft in die Nähe der Spekulation geraten ist. Ihre Weltschau kommt mir vor wie die eines Menschen auf einem Balken, der mit einem Ende über den Abgrund hinausragt. Solang der Balken hinten schwerer ist als der Mensch vorn, ist der Balken sicherer Grund. Es kann sogar sein, daß der Mensch, wenn er kühn ist, ein paar Schritte weiter hinaus tut. Aber einmal wird ein Schritt zu weit sein, und der Balken nebst Mensch stürzt hinunter. Die Mathematiker betrachten sich als kühn. Sie tun Schritte hinaus. Sie werden eines Tages in den Abgrund der Spekulation stürzen, und dann wird ihre Mathematik unversehens wieder Aberglaube.
Auch wir, habe ich gesagt, wollen erfassen – nicht alles, aber das Faßbare. Aber wir wissen, daß das Faßbare nicht durch Ausmalen bis zum Rand erfaßbar ist. Wir wissen, daß viele Dinge (in der Malerei und auch sonst) nur dadurch faßbar sind,
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