Briefe in die chinesische Vergangenheit
Kutschen der Bevölkerung freigegeben hat.
Es war finster in dem Ta-mam. Dichtgedrängt standen die Leute herum, schwitzten und rochen nach Regen. Ab und zu hielt das Eisenhaus, wobei alle Bewohner und Gäste durcheinandergeschüttelt wurden. Es ist wie bei einem ständigen Erdbeben. Die Sache scheint mir nicht ganz sorgfältig durchdacht. Immer, wenn der Ta-mam hielt, wälzten sich Massen von Leuten hinaus und andere gleichzeitig herein. Keiner grüßt oder verbeugt sich. Die Höflichkeit, sah ich wieder einmal, ist gänzlich abgekommen. Ich bin ganz, nun, schon fast ganz sicher, daß diese ruhelos ständig herumschweifenden, in A-tao-Wagen rasenden, im Ta-mam-Eisenhaus hin- und herfahrenden Großnasen nicht unsere Enkel sind. Warum sie ständig unterwegs sind, ist restlos unklar. Ich kann keinen Grund erkennen. Ich vermute, die Großnasen kennen ihn selber nicht.
Siehe, lieber Dji-gu – auch Du bist ab und zu unterwegs: Du verläßt an einem Tag Deinen Palast und begibst Dich in die Bibliothek, um eine Schriftrolle des göttlichen Meng-tzu zu betrachten; am anderen Tag läßt Du Dich zur kaiserlichen Audienz tragen; drei Tage später vielleicht begibst Du Dich mit dem ältesten Deiner Söhne zum Tempel oder dergleichen. Es mag sein, daß Du ab und zu sogar außerhalb Deines Parks einen Spaziergang machst. Gut – das ist das Leben eines Mandarins. Einfache Leute sind naturgemäß öfters unterwegs. Die Weiber müssen zum Markt, um einzukaufen, der Farbenreiber muß zu seinen Kunden, um seinen Lack abzuliefern, und so fort. Aber hier rennen ständig alle ununterbrochen, selbst wenn es finster ist, kreuz und quer durcheinander, ohne sichtbaren Sinn und Zweck, nur, kann ich nicht anders vermuten, um des Durcheinanderrennens willen. Nur in den spätesten Nachtstunden, habe ich bemerkt, wird es etwas ruhiger. Wäre man etwas weniger aufgeklärt, als wir es sind, würde man an Besessenheit und dämonische Getriebenheit denken.
Um sich das Durcheinanderrennen zu erleichtern – oder: um sich die Möglichkeit zu schaffen, noch mehr durcheinanderzurennen –, haben sie ihre fahrenden Eisen-Ta-mam-Häuser erfunden, die sich zwar nicht so schnell bewegen wie A-tao-Wagen, aber immer noch viel schneller als ein Mensch laufen kann.
Nach einiger Zeit gelang es Herrn Shi-shmi, zwei Plätze auf einer Bank zu erobern, und wir setzten uns. Da ich nun mehrfach schon mit einem schnellen A-tao-Wagen gefahren bin, überhaupt die rasende Umtriebigkeit des ganzen Lebens hier (jetzt) zur Genüge beobachtet habe, wird mir in einem Ta-mam-Wagen-Haus nicht mehr schlecht. Ich lehnte mich also, nachdem ich mit Herrn Shi-shmi endlich Platz auf der Bank gefunden hatte, ungeachtet des Lärms und des Gestanks zurück, wollte meine Hände in die Ärmel stecken, merkte wieder einmal, daß das bei der hiesigen unsinnigen Kleidung nicht geht, legte also die Hände auf die Knie und schaute zu einem der großen Fenster hinaus, an denen eine Stadt von – es ist nicht anders zu sagen, teuerster Dji-gu – unvorstellbarem Ausmaß vorüberzog.
Ich war der Meinung, daß die Gegend um den Palast des ehemaligen Wang und die Straßen und Häuser entlang dem »Kanal der blauen Glocken«, wo Herr Shi-shmi wohnt, der Kern der Stadt Min-chen sei. Weit gefehlt. Das ist ein weit draußen liegender Außenbezirk. Je weiter wir uns dem eigentlichen Kern von Min-chen näherten, desto höher wurden die Häuser. Alle Häuser sind aus Stein, die Straßen auch. Bäume gibt es kaum. Wie Felsen und Schluchten drohen die Massen dieser gigantischen Häuser, ganz mit blinkenden Glasfassaden übersät, rasende A-tao-Wagen schäumen durch die Straßen, die fahrenden Ta-mam-Eisenhäuser, von denen im Kern der Stadt – als wären die dämonengroßen Steinhäuser noch nicht genug – eine ganze Menge vorhanden sind, rattern kreuz und quer, und man wundert sich nur, daß das alles unbeschadet aneinander vorbeifindet. Ein Pfeifen, Klirren und Heulen von unbeschreiblicher Stärke verwirrt jede normale Sinneswahrnehmung. Es schien mir, als stürze alles in einem Gewitter aus Stein und Eisen über mir zusammen. Es war das finstere Chaos.
Nur die Tatsache, daß mein Freund, Herr Shi-shmi, völlig gelassen und unbeteiligt dasaß und nicht nur gleichgültig, sondern sogar gelangweilt in dieses graue und schwarze Inferno hinausblickte, beruhigte mich.
Du weißt, teurer Dji-gu, daß unsere Erhabene Kaiserstadt die größte Stadt des Reiches ist. Wenn ich Dir sage, daß wir den
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