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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Rosendorfer
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kostet jeden von uns einen Kopf, und wir haben jeder nur einen.
    Ich neige also dazu, meine ganze Reise überhaupt zu verschweigen. Es scheint in der Ordnung, daß die Menschen von ihrer Zukunft nichts wissen.
    Aber ebendiese Frage nach der Zukunft unserer Ruhmreichen Dynastie Sung hat mich auf einige erregende Probleme gebracht, deren Lösung möglicherweise einzelne der Ungereimtheiten klären kann, die mir hier ständig begegnen. Herr Shi-shmi hat den Namen der letzten hier regierenden Dynastie mit Wi-wel-ba angegeben, deren letzter Herrscher jener schon mehrfach erwähnte überaus dicke Wang Lu-wing, der dritte dieses Namens, gewesen ist. Von einer Dynastie Sung war Herrn Shi-shmi nichts bekannt. Dabei kamen wir auf die Geographie zu sprechen, und ich mußte erstaunt feststellen, daß Herr Shi-shmi das Große Meer nicht im Osten, sondern im Westen weiß. Wie das? Sollte das Meer gewandert sein? Ich gebe unser Gespräch in vereinfachter Form wieder:
Er:
Aber nein, liebster Kao-tai, das Meer liegt im Westen, weit im Westen.
Ich:
Aber wohin, teuerster Shi-shmi, fließt dann der Fluß? Ins Gebirge etwa? Fließt das Wasser jetzt aufwärts?
Er:
(lachend) Nach Osten fließt der große Fluß, der heißt To-nao. Der fließt freilich ins Meer, aber nur in ein sehr kleines Meer. Der Fluß I-sal, an dessen Gestaden Min-chen liegt, fließt seinerseits nach einigen Umwegen in den To-nao. Aber das Große Meer liegt im Westen, wo die Sonne untergeht. Glaube es mir, gelehrter und ehrfurchtgebietender Kao-tai, ich habe die Länder selber bereist.
Ich:
Hm.
    Hier wurde mein schon längst gehegter Verdacht zur Sicherheit. Das war vor vielleicht zehn Tagen, mag sein, es war an jenem Tag, als ich mit Herrn Shi-shmi in der Stadt war und den Shao-bo-Gegenstand kaufte. Einige Tage später machte ich in der Wohnung von Herrn Shi-shmi eine aufregende Entdeckung. Ich habe von Herrn Shi-shmi die Erlaubnis, mich aller Gegenstände in seinem Haus zu bedienen. Er habe, sagte er, keine Geheimnisse vor mir. Nicht so sehr aus persönlicher Neugier, aber aus Gründen des Erkenntnisdranges mache ich Gebrauch davon. Dazu muß ich vorausschicken, daß die Großnasen die Kunst der Buchdruckerei noch kennen. Sie bedrucken mit ihrer eigenartigen Schrift das Papier beidseitig, es handelt sich aber um unglaublich dickes und grobes Papier. Die Bücher bekommen dadurch ein Gewicht wie Blei, zumal sie sie noch in schwere Deckel binden.
    In manchem dieser Bücher, die ich natürlich noch nicht richtig lesen kann, sind Bilder, weshalb ich oft und gern Herrn Shi-shmis Bücher – er hat wohl an die tausend – aus dem Regal nehme und anschaue, wenn es mir langweilig und Herr Shi-shmi nicht da ist. Die Bilder befinden sich aber nicht, wie es sich gehört, über dem Text, sondern sind über den Text hin verstreut. Eines der Bücher ist das ›Buch der beiden bösen Knaben‹, hat sehr viele Bilder, und die Knaben heißen Ma’ch und Mo-lix und stehlen einer Witwe die Hühner. Herr Shi-shmi findet es lustig, ich halte den Inhalt vom moralischen Standpunkt her für verwerflich. Aber anhand dieses Buches – ich weiß nicht, warum Herr Shi-shmi gerade das ausgesucht hat – lerne ich die hiesige Schrift lesen. Es ist in Versen geschrieben, die aber ganz anderen als für unsere Verse geltenden Gesetzen gehorchen. Einige der Verse kann ich schon lesen. Der Anfang lautet etwa:
    »Der Edle klagt darüber,
    Daß man nicht umhin kann
    Vielfach böse Beispiele zu vernehmen,
    Etwa von den Untaten der beiden Knaben
    Die Ma’ch und Mo-lix hießen,
    Die anstatt den weisen Lehren der Alten zu folgen
    Sich über ebenjene Erhabenen lustig machten …«
    Der Verfasser dieses Gedichtes von den beiden unartigen Knaben heißt Wi-wem-bu, aber ich will Dir von einem ganz anderen Buch berichten. Du ahnst nicht, was für eins. Als es mir in die Hände fiel – und es fiel mir buchstäblich in die Hände, denn es rutschte aus der Reihe, als ich das Buch daneben herauszog, und fiel herunter, ich konnte es grad noch auffangen – als es mir in die Hände fiel, war es mir, als umhüllte mich wärmend wie die Sonne nach einer Woche Regen das Gefühl, daheim zu sein. Stell dir vor: auf dem Buch, das ich beinahe in – wenngleich ungewollter – Ehrfurchtlosigkeit zu Boden geworfen hatte, leuchteten mir – ja: leuchteten mir entgegen, obwohl sie in Schwarz gedruckt waren, die anheimelnden Zeichen unserer geliebten Schrift. Zwei Zeichen, und es waren nicht geringere als die Zeichen für das

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