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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Rosendorfer
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vollends, gar nicht in unserer Kaiserstadt K’ai-feng, nicht einmal im Reich der Mitte. Min-chen ist nicht und war nie im Reich der Mitte, es liegt ganz woanders. Ich stehe gar nicht auf dem Boden, auf dem Du stehst, teurer Dji-gu. Zeit und Raum sind durcheinandergewirbelt. Ich lebe in einem anderen Teil der Welt. Ja, Du liest richtig: in einem anderen Teil der Welt. Unsere Heimat ist für Herrn Shi-shmi und seine Landsleute und Zeitgenossen nicht nur längst vergangen, sondern auch weit weg. Sie nennen unser Land, das Erhabene Reich der Mitte: Chi-na. Woher die Bezeichnung kommt, ist mir noch unklar, auch ob es das Reich der Mitte noch gibt. Ich sagte Herrn Shi-shmi, ob wir nicht miteinander hinreisen wollten. Er lachte und sagte, daß das wohl viel zu weit weg sei, auch gäbe es da unüberwindbare Schwierigkeiten. Ich fragte, wie dann sein Land, dieses Reich, dessen Hauptstadt Min-chen sei, heiße? Es heißt Ba Yan, sagte er, und sei längst nicht so groß und auch nicht so alt wie das Erhabene Reich der Mitte.
    Was werde ich nicht noch alles erfahren in dieser fremden Welt, mein über alles geliebter Dji-gu? Aber, wie gesagt, mein Drang nach Erkenntnis ist größer als Furcht und Angst. Ich habe Herrn Shi-shmi übrigens auch von Dir erzählt. Er bittet mich, Dich zu grüßen, vor allem aber grüßt Dich Dein
    doppelt ferner Kao-tai

Zehnter Brief
    (Montag, 19. August)
    Teurer Dji-gu.
    Es hat mir, aufs Ganze gesehen, nicht mehr viel ausgemacht, nun auch zu wissen, daß ich nicht nur um tausend Jahre, sondern auch viele tausend Li von meiner Heimat entfernt bin (wieviel tausend Li es sind, hat Herr Shi-shmi ausgerechnet; ich habe die Zahl aber leider vergessen – was sind schon Zahlen), nur eins bedrückt mich doch: die Ferne von Shiao-shiao, der grünäugigen. Willst Du mich damit trösten, wenn Du schreibst, du sähest sie nur traurig auf dem Sofa in der Kammer mit dem Holunderblütenvorhang sitzen, und sie täte nichts, außer daß sie unverwandt zum Fenster hinaussähe – nur ab und zu, schreibst Du, ginge eine Bewegung durch ihren unvergleichlich schönen Körper, dann nämlich, wenn sich draußen ein Vogel auf einen Ast setzt? Soll es mich trösten zu wissen, daß sie traurig ist? Ja, doch – ich bin so egoistisch, daß es mich tröstet. Schreibe mir viel von ihr, sage ihr, daß ich sie liebe, wie nur ein Mann in meinen Jahren lieben kann: nicht mit kopflosem Leichtsinn, sondern mit Wissen um die Schönheit. Wissende Liebe – die kann man nur zu einem Wesen wie Shiao-shiao empfinden – bei fast allen meinen Frauen und Konkubinen war es Lust und Brunst (bestenfalls); nein, die wahre Liebe von bewußter Würde ist nur einem Wesen wie Shiao-shiao gegenüber möglich. Schreibe mir, daß sie traurig ist, ja, sie soll traurig sein, sie soll nach mir weinen, denn auch das gehört zur Liebe. Abgesehen davon ist mir klar, daß sie, wenn sie so in Trauer auf das Sofa hingeschmiegt ist und ihre schimmernden Gliedmaßen in unvergleichlicher Anmut arrangiert, daß sie dann trotz aller Trauer sehr wohl weiß, wie schön sie ist.
    Alles übrige soll seinen Gang gehen. Daß meinen ehrenwerten Herrn Ersten Schwiegervater Kuang-ma endlich der Schlag getroffen hat, den alten Geizkragen, hat mich mit angemessener Anteilnahme erfüllt. Richte das bitte meiner Frau Kuang-ching aus, und auch, daß es mir leid täte, bei den Trauer-Zeremonien nicht anwesend sein zu können: ich könne unmöglich meine äußerst wichtige Reise unterbrechen. Wenn das Haselnußöl bisher nicht angeschlagen hat, soll meine Hauptfrau Fett von frisch geschlachteten Ferkeln auftragen – möglichst heiß.
    Nein, es hat mir keinen Schlag versetzt, zu wissen, daß ich nicht im Reich der Mitte bin, sondern in einem Land weit weg davon, das Ba Yan heißt, und von dessen Existenz Du und ich keine Ahnung hätten, wenn wir nicht auf den fürwitzigen Gedanken meiner Zeit-Reise gekommen wären. Im Gegenteil: seit zwischen dem überaus teuren Herrn Shi-shmi (dem ich Deine Grüße – unbekannterweise – ausgerichtet habe) und mir alles klar ist, wir unsere Standorte kennen, ist es für mich viel leichter, Erkenntnisse zu gewinnen. Auch kann mir Herr Shi-shmi, da er sich vorstellen kann, was ich alles nicht verstehe, manches viel besser erklären. Zunächst geht es um Grundsätzliches. (Wir sitzen nun jeden Abend. Ich bringe auch »Brandopfer«, allerdings nur die braunen, größeren. Die anderen, kleinen weißen stinken für meinen Begriff.) Ich frage Herrn

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