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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Rosendorfer
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Shi-shmi jeden Abend so lang, bis er lachend sagt: nun hätte ich ihm die Seele aus dem Leib gefragt. Meine Fortschritte im Verstehen der hiesigen Sprache rasen vorwärts, beflügelt von meiner Neugierde.
    Herr Shi-shmi – er sagt, das sei eine allgemeine Annahme – glaubt, daß die Erde eine Kugel sei, und Länder und Meere seien auf der Kugeloberfläche nebeneinander angeordnet. Unser Reich der Mitte, das er Chi-na nennt, befinde sich auf der einen Kugelhälfte, das Land Ba Yan und viele andere Länder (er hat Namen von verwirrender Fülle genannt) auf der anderen. Meinen Einwand, daß doch dann die Menschen von der Kugel rutschen würden, wenn es so wäre, ließ er nicht gelten. In der Mitte dieser Kugel befinde sich eine natürliche Anziehungsmasse, die die Menschen und Tiere, Pflanzen und Steine und überhaupt alles wie mit unsichtbaren Fäden festhält. Er argumentiert: alles, was wir nicht festhalten, fällt zu Boden. In die Luft hinauf fällt nichts – der Rauch, ja, den ich aus meinem köstlichen braunen Brandopfer blase (ich habe spezielle Brandopfer, sie sind sehr teuer, aber dank meiner Silberschiffchen kann ich sie mir leisten; meine speziellen Brandopfer, Herr Shi-shmi besorgt sie mir in der Stadt, heißen Da-wing-do), der Rauch steigt hinauf, ja, aber es ist mir klar: das ist nur ein scheinbares »Hinauffallen«. Bald setzen sich auch die Partikel, aus denen der Rauch besteht, herunten überall wieder ab. So ist es mit allem, was hinaufsteigt: mit den Vögeln, den Wolken, den Drachen. Also ist die Argumentation von Herrn Shi-shmi nicht von der Hand zu weisen.
    Meinen weiteren Einwand, daß man – die Kugelform der Erde unterstellt – das doch wahrnehmen müsse und daß dem Augenschein nach doch offensichtlich die Erde flach sei, hat Herr Shi-shmi auch entkräftet. Das sei nur so, sagte er, weil die Erde eine so große Kugel respektive der Mensch so klein sei. Ich solle mir vorstellen, wie sich eine Laus auf einem sehr großen Kürbis (Kürbisse gibt es noch; auch Läuse) vorkomme. Sie meine, sie krieche geradeaus, und in Wirklichkeit krieche sie im Kreis um die Kugel herum. Vielleicht meine auch die Laus, sagte Herr Shi-shmi, der Kürbis sei flach. Auch das ist nicht ganz von der Hand zu weisen, wobei man noch dazu bedenken müsse, sagte Herr Shi-shmi, daß im Verhältnis zum Kürbis die Laus vieltausendmal größer sei als der Mensch im Verhältnis zur Kugelerde. Außerdem, argumentierte Herr Shi-shmi, könne man unter gewissen Umständen die Kugelgestalt sogar wahrnehmen, nämlich am Meer. Wenn eine Laus, so erklärte er es mir, auf dem Kürbis einer zweiten Laus begegnet, die von der anderen Seite der Kugel ihr entgegenkriecht, so müsse es der ersten Laus wohl vorkommen, als tauche die zweite Laus über dem Horizont auf. Genauso sei es doch mit den Schiffen am Meer, und das, lieber Dji-gu, ist wahr, wie ich selber oft genug gesehen habe, als ich vor Jahren meinen Erhabenen Schwager, den Admiral Tu Fei-chung, zur Inspektion der kaiserlichen Flotte in die Hafenstädte begleitete.
    Eigens für mich brachte Herr Shi-shmi eine Kugelwelt im Kleinen mit, sehr bunt. Man kann die Kugel hinstellen und drehen. Es handelt sich um eine der Kugelgestalt angeschmiegte Landkarte. Es war erregend. Herr Shi-shmi zeigte mir Deine und meine Heimat, das Reich der Mitte – das natürlich gar nicht in der Mitte ist, denn wo soll eine kugelige Fläche eine Mitte haben –, und er zeigte mir seine Heimat Ba Yan. Ein winziger Punkt bezeichnet die Stelle, wo die Erhabene Kaiserstadt K’ai-feng liegt. Ein ebenso winziger Punkt zeigt die Lage der Stadt Min-chen an.
    Wie aber kam ich nach Min-chen? Auch dafür hat Herr Shi-shmi eine Erklärung. Nicht nur das Kugel-Erde-Modell ist drehbar, auch die wirkliche Erdkugel drehe sich beständig um sich selber, sagt er. Auch diese Bewegung sei zu groß, als daß man sie bemerke. Wenn ein Baum wächst, sagt er, so bemerkt man das Wachsen, das ja eine Bewegung sei, auch nicht. Es sei noch komplizierter, aber ich solle mir das einmal so vorstellen. Gleichzeitig drehe sich aber die Erde um die Sonne, die viel größer sei, als man meine, denn sie sei nur so weit weg. In einem Tag drehe sich die Erde um sich selber, in einem Jahr drehe sich die Erde um die Sonne. Sehr verwirrend. Ich fragte, ob das alles auch die private Philosophie von ihm, Herrn Shi-shmi, sei, die er sich im Lauf der Jahre erarbeitet habe? Nein, sagte er, das sei hier und jetzt die allgemeine Ansicht von der

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