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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Rosendorfer
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göttliche ›I Ching‹. Du liest recht: unser erhabenes ›Buch der Wandlungen‹. Es war eine Übersetzung in die hiesige Sprache. Auf dem Umschlag waren quasi als Dekoration unsere Schriftzeichen dargestellt. So ist die Welt hier doch noch nicht verloren? So verbindet die Großnasen doch noch ein wenngleich dünnes und schleißiges Band mit uns, mit unserer Welt und dem, was wir für richtig halten?
    Ich zeigte, so bald ich hörte, daß er heimkam, das Buch Herrn Shi-shmi. Ja, ich bekenne: ich war so aufgeregt, daß ich ihm entgegenrannte und ihm, der noch nicht einmal seinen durchnäßten Mantel und seine kleinen Fuß-Lederkästchen (Shu-he), die auch ganz durchweicht waren, ausziehen und wechseln konnte, das Buch entgegenhielt. Er lächelte, zog den Mantel aus und legte seinen Schirm weg. Dann führte er mich – ich hielt das göttliche ›I Ching‹ immer noch fest in der Hand – in sein Arbeitszimmer, das auch unser gemeinsames Wohnzimmer ist, brachte eines seiner kleinen Brandopfer dar und sagte: er wundere sich nicht, daß mir das bekannt sei. Er habe die ganze Zeit gar nicht daran gedacht, daß er unter seinen vielen Büchern auch dieses besitze, sonst hätte er es mir schon viel früher gezeigt.
    Das Gespräch – zum Glück ist mein Verständnis seiner Sprache schon so gut, daß ich selbst komplizierten Ausführungen folgen kann; er, Herr Shi-shmi, hingegen hat es aufgegeben, unsere Sprache durch mich zu lernen, es sei ihm zu schwer, sagt er, vielleicht steht es ihm auch nicht dafür … ich kann es verstehen, denn er wird nie in unsere Welt kommen, und was soll er dann mit der Kenntnis unserer Sprache – das Gespräch, das sich anschloß, zog sich bis weit nach Mitternacht hin. Wir aßen nichts, wir tranken nichts; nur unzählige Brandopfer brachte Herr Shi-shmi dar, zuletzt sogar einige große braune, die er sonst nur an Feiertagen verwendet. (Ich spreche weiterhin von Brandopfern. Inzwischen weiß ich jedoch, daß es keine kultische Handlung ist, sondern eine Art gewohnheitsmäßigen Rauch-Trinkens, eine weitverbreitete Angewohnheit der Großnasen, die nicht gerade zur Verbesserung der Luft beiträgt. Aber die Bezeichnung Brandopfer scheint mir passend zu sein, da die Großnasen an dieser Gewohnheit offenbar wie an heiligen Zeremonien hängen. Ich muß allerdings gestehen, daß ich selbst schon an den Brandopfern Gefallen finde, allerdings nur an den wohlriechenden braunen.) Den Gang des Gespräches wiederzugeben ist unmöglich. Es würde ein Buch füllen. Vorausschicken muß ich, daß ich nun nicht mehr umhin konnte, Herrn Shi-shmi, der ja bisher nichts von meiner Herkunft wußte, in meine Zeit-Reise einzuweihen. Er sagte, daß er derlei für unmöglich halten würde, wenn ich nicht leibhaftig vor ihm säße und Beweise – nämlich etwa meine für ihn und seine Welt uralten Silberschiffchen – vorzeigen könnte. Seine Philosophie, sagte er, die keine allgemeingültige Lehre sei, sondern seine private Ansicht von der Welt, die er sich im Lauf seines Lebens erworben habe, seine Philosophie erlaube es ihm, alles für möglich zu halten. Er umarmte mich und sagte, daß ich doch wohl sehr einsam hier sei und daß die Welt, seine Welt, mir kalt und herzlos erscheinen müsse. Ob ich nicht das Gefühl habe, daß diese seine Welt alles tue, um mich, den uralten Mandarin Kao-tai, als unpassenden Fremdkörper wieder auszustoßen? Ja, sagte ich, dieses Gefühl hätte ich. Er umarmte mich nochmals und sagte, daß er froh sei, mir wenigstens in seiner Wohnung eine sichere Zuflucht bieten zu können. Nun umarmte ich ihn, dankte ihm und sagte, daß er sich keine übertriebenen Sorgen machen solle. Einer wie ich, dessen Denken fest in den Bahnen der Lehren unseres Unendlich Erhabenen K’ung-fu-tzu gefügt sei, der sei Herr seiner Gefühle, und meine Neugierde, mein Streben nach Erkenntnis, übersteige meine Angst.
    Er schaute mich lange an, nachdem er mir noch mehrmals seine unumschränkte Hilfsbereitschaft versichert hatte, und sagte: ich solle nicht böse sein, die Eröffnung meiner Herkunft müsse er erst verdauen, vorerst sehe er mich ein wenig an wie ein Gespenst. Ich lachte, verbeugte mich zweimal (wie sonst nur vor einem Vizekanzler oder einer kaiserlichen Konkubine) und sagte: das sei ganz klar, denn umgekehrt sei für mich seine ganze Welt gespenstisch. Aber das eigentliche, für mich wesentliche Ergebnis des Gesprächs: ich bin, und somit bestätigt sich meine schon mehrfach geäußerte Vermutung

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