Briefe in die chinesische Vergangenheit
gelehrt haben oder in der Nähe. Sie haben geschrieben und weise Lehren hinterlassen. Einer, der speziell in Min-chen ein angesehener Meister war, hatte den uns fast vertraut klingenden Namen She-ling. Die Vertrautheit des Namens ist nur scheinbar und Zufall. Meister She-ling stammte nicht aus dem Reich der Mitte. Diesen She-ling-tzu, der – nach hiesiger Rechnung – vor hundertfünfzig Jahren gelebt hat, kann man, Herr Shi-shmi sagt es, schon nur noch mit Mühe lesen! Das hänge aber damit zusammen, sagt Herr Shi-shmi, daß She-ling-tzu so ungeheuer krause Gedankengänge zu Papier gebracht habe, daß schon der Verdacht geäußert wurde, She-ling-tzu habe gelegentlich seine eigene Philosophie nicht verstanden. Gut; ich kann das natürlich nicht beurteilen. Ein anderer Meister, hat Herr Shi-shmi erzählt, hat vor zwei Jahrhunderten gelebt: Kan-tzu. Den verstünden nur noch Spezialisten. Vor dreihundert Jahren habe ein höchst schätzenswürdiger Meister gelebt und gelehrt, der Lei-mi-tzu genannt worden sei. Der sei auch für Spezialisten fast nur in Übersetzungen lesbar, und so weiter und so fort. Ob es vor eineinhalbtausend Jahren hier auch Meister gegeben habe, die gedacht und gelehrt hätten? fragte ich Herrn Shi-shmi. O ja, sagte er, zum Beispiel den Meister Ao-gao-tin, dem – ähnlich wie unserem K’ung-fu-tzu – von einem Teil der Bevölkerung gewisse göttliche Ehren erwiesen werden. ›Vom Zustand des Göttlichen‹ oder ›Vom himmlischen Kaiserreich‹ (grob übersetzt) heißt sein Hauptwerk. Aber dessen Sprache ist ausgestorben, und eigentlich gäbe es kaum jemanden, der derlei noch lese.
Du siehst: sie schreiten fort. Wohin schreiten sie? Ich habe den Verdacht, sie wissen es nicht. Jedenfalls, scheint es mir, sie schreiten fort von sich selber.
Sicher wissen auch wir, daß die Zeit nicht stehenbleibt. Kinder werden geboren, werden erwachsen, wir werden alt, sterben, Generationen machen neuen Generationen Platz. Kaiser folgt auf Kaiser, Dynastien folgen aufeinander. Ein Haus stürzt ein, ein neues wird gebaut. Der Baum im Garten wächst. Der Vogel, der darin singt, ist zwar vielleicht ein anderer als der vom vorigen Jahr, aber er singt in gleicher Weise, so wie sich die Wellen des ewigen (ewigen? daran zweifle ich jetzt allerdings) Huang-ho immer in gleicher Weise kräuseln. Es sind verschiedene Wellen, es ist der Gesang verschiedener Vögel, und doch bleibt alles im Wesentlichen gleich. Wenn man sich das Fließen des Huang-ho als einen Kreislauf denkt, mündet auch alle Verschiedenheit in die Beständigkeit: die Wellen kräuseln sich hinab zum Meer, dort verdunsten sie, steigen hinauf und werden zu Wolken, aus denen der Regen herabrinnt und die moosbehangenen Felsen von Kang-su benetzt, aus denen wiederum die Quellen springen, die den Huang-ho speisen. Ein ewiger, unverrückbarer Kreislauf, selbst wenn man in Rechnung stellt, daß ab und zu selbst der Huang-ho seinen Lauf ändert.
Ein ewiger Kreislauf. Wir sind der Meinung, daß das auch für den Menschen und sein Staatswesen gilt. Die Menschen der nächsten Generation sind zwar nicht gleich denen der vorigen, aber ähnlich, nicht viel anders wie die Wellen des ewigen Huang-ho. Ein Haus stürzt ein, ein neues wird gebaut. Mag sein, der Hausherr läßt ein Fenster mehr einbauen oder weniger – im Grunde genommen ist es ein Haus, wie es eben ein Haus ist. Die Kaiser regieren, die Weisen denken (manchmal denkt auch ein Kaiser). Was soll sich da ändern? Meinen wir. Ab und zu gibt es eine Revolution, ja, gut. Der Weizen oder das Kupfer werden teurer oder billiger, einmal gibt es einen schwachsinnigen Finanz-Mandarin, der versucht, das Papiergeld einzuführen … es kommt wieder ab. Einige Jahre lang tragen die Damen des Hofes (und alle anderen machen es nach) nur pfirsichfarbene Haarschleifen, und dann plötzlich wieder gelten pfirsichfarbene Haarschleifen als abstoßend, und alle tragen zwetschgenfarbene. Aber auch die kommen wieder ab. Das alles sind Details. Hatten wir je das Bedürfnis, ja überhaupt ein Vorstellungsvermögen davon, daß sich im Wesentlichen etwas ändern könnte?
Die Großnasen hier schon. Sie kennen, obwohl ihr Weltbild kugelförmig ist und sie ihre Erde kreisbewegt sehen, keinen Kreislauf, sie kennen nur die dümmliche gerade Linie. Ich habe das Gefühl: für sie verläuft der Lebensweg des Menschengeschlechts in einem schnurstrackigen Weg, und sie sind nur damit beschäftigt, davor zu zittern, wo dieser Weg hinführt. Die
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