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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Rosendorfer
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denkenden unter den Großnasen lassen sich in zwei Gruppen einteilen: die einen behaupten, der Weg führe in eine goldene, paradiesische Zukunft (die, so sagt mir Herr Shi-shmi, führen ihre Lehre auf einen Meister Ma-’ch zurück, die Namensgleichheit oder Ähnlichkeit mit dem unartigen Knaben Ma’ch aus jenem Gedicht ist rein zufällig, obwohl, meine ich, entlarvend; sowie auf dessen Schüler Jing-il und Le-ning); die anderen sehen den Weg geradeaus in den Abgrund führen (ihre Lehre geht, sagt Shi-shmi, auf zwei Meister namens Sho Peng-kao und Ni-tzu zurück). Du darfst raten, wem ich recht gebe. Aber das nur nebenbei.
    Die Großnasen kennen keinen Kreislauf. Die Großnasen glauben verbissen daran, daß alles sich ständig ändern muß, und selbst die Vernünftigeren sind nicht von der Meinung abzubringen, daß, wenn etwas sich ändert, es auch besser wird. Hat die Welt schon so einen Aberglauben gesehen? Dabei bräuchte man nur die unverwüstlichen Gesetze der göttlichen Mathematik anzuwenden. Wenn Du eine Münze in die Höhe wirfst, steht die Chance 1:1, mit welcher Seite sie nach oben zu liegen kommt, wenn sie herunterfällt. Wenn ich – sei es im Privatleben, sei es im Staatswesen – etwas ändere, steht die Chance 1:1, ob das Neue besser oder schlechter ist als das Gewesene. Das, meint man doch, leuchtet dem Dümmsten ein. Nicht so den Großnasen. Sie sind davon nicht abzubringen, daß das Neue immer zwangsläufig besser ist als das Alte.
    Fort-Schritt … sie schreiten fort, sie schreiten fort von allem. Sie schreiten fort von sich selber. Warum? frage ich mich. Wohl nur, weil es ihnen nicht gefällt, bei sich selber zu sein. Und warum gefällt ihnen das nicht? Wohl weil sie sich – und das nun wieder mit Recht – als widerwärtig empfinden. Aber was für ein Unsinn, von sich fortzuschreiten. Sie ändern ja nur ihre Umgebung, nicht sich selber. Und das scheint mir der Kernpunkt zu sein: die Großnasen sind weder in der Lage noch willens, sich selber zu vervollkommnen (und das, obwohl sie, wie ich gesehen habe, das Erhabene ›I Ching‹ kennen!), sie experimentieren lieber mit ihrer Welt herum. Herr Shi-shmi – obwohl selber nicht frei von solchem Aberglauben – hat mir zugestimmt, als ich ihm diese meine Gedanken dargelegt habe.
    Also werden die Großnasen weiter fortschreiten, und nur mit Grausen kann man daran denken, wohin sie es in weiteren tausend Jahren gebracht haben werden. Meine Alpträume davon sind wahrscheinlich geschmeichelt. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß sie es letzten Endes fertigbringen – noch ehe weitere tausend Jahre vergehen –, ihre Kugelwelt zu Staub zu zerblasen. Sie sind dümmer als Affen, die zum Teil ja auch große Nasen haben. Ich schließe jetzt diesen Brief. Ich muß zum Kontaktpunkt. Die Stunde, wo ich den Brief auf seine Zeit-Reise zu Dir schicken kann, rückt näher.
    Ich grüße Dich, ferner Freund, küsse meine geliebte Shiao-shiao. Heute abend sind wir – Herr Shi-shmi und ich – zum Abendessen bei einer Herrn Shi-shmi nahestehenden Dame eingeladen.
    Ich umarme Dich brüderlich.
    Dein Kao-tai

Elfter Brief
    (Dienstag, 20. August)
    Mein lieber Dji-gu.
    Du wunderst Dich wahrscheinlich, daß ich Dir heute schon wieder einen Brief schreibe. Ich hoffe, Du gehst nicht erst in ein paar Tagen zum Kontaktpunkt, weil Du nicht so schnell einen Brief von mir erwartest, so daß dieser Brief womöglich längere Zeit im Regen liegenbleibt – aber es muß ja bei Euch nicht auch regnen wie hier. Aber Du hast mir versprochen, jeden Tag am Kontaktpunkt vorbeizuspazieren, und ich hoffe sehr, Du hältst dieses Versprechen ein – besser als Dein Versprechen, mir mindestens jeden fünften Tag zu schreiben. Ich bin jetzt fast vierzig Tage in dieser fernen Welt und habe erst vier Briefe von Dir. Es soll kein Vorwurf sein. Ich weiß, daß Deine Amtsgeschäfte Dich stark in Anspruch nehmen, zumal Du die unbezahlbare Freundlichkeit hast, auch noch die Bürde meines Amtes, die Präfektur der kaiserlichen Dichtergilde »Neunundzwanzig moosbewachsene Felswände«, für die Zeit meiner Abwesenheit mitzutragen. Ich weiß ganz gut, wie undiszipliniert die Hochehrwürdigen Bekränzten Dichter der »Neunundzwanzig moosbewachsenen Felswände« sind, und daß man sie manchmal, um einen Ausdruck des Herrn Shi-shmi zu gebrauchen, den ich im Wortsinn übersetze – ungespitzt in den Erdboden rammen möchte. Haben sie inzwischen endlich ihr fehlendes neunundzwanzigstes Mitglied

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