Briefe in die chinesische Vergangenheit
Gestalt der Welt, und die Ansicht sei durch viele Tatsachen gesichert.
Ich erwarte nicht, daß Du das alles auf diese paar Zeilen hin glaubst oder gar verstehst. Mir geht es nicht anders. Dieses gigantische und unfreundliche Weltbild ist mir zu fremd. Ich sehe lieber unsere Heimat als gefestigtes, sich nicht drehendes Reich der Mitte, und ich beabsichtige es auch nach meiner Rückkehr so zu halten; aber davon sage ich natürlich Herrn Shi-shmi nichts, da es ihn kränken könnte.
Aber nun zu der Erklärung, wie ich von K’ai-feng nach Min-chen komme: wir hätten, meint Herr Shi-shmi, bei unseren Berechnungen diese Drehung der Kugelwelt und das Kreisen um die Sonne nicht berücksichtigt, weil wir ja nichts davon wußten, und in den tausend Jahren, die ich dank unseres vorzüglichen Zeit-Kompasses in einem Augenblick zurückgelegt habe, hat sich – während ich sozusagen für mich diesen einen Augenblick, für die Kugelerde tausend Jahre außerhalb der Zeit war – die Erde tausendmal um die Sonne gedreht und 365 000mal um sich selber. So hat sich mein Ankunftsort verschoben. Es ist nicht zu leugnen, daß das doch irgendwie einzusehen ist. Aber ich bin auch sofort erschrocken: was ist dann mit meiner Rückkehr? Herr Shi-shmi beruhigte mich. Meine Rückkehr, sagte er – und das leuchtet unmittelbar ein –, vollzieht sich als genau umgekehrt laufender Vorgang wie meine Reise hierher, und unser Irrtum korrigiert sich so rückwärts spulend von selber. »Es kommen ja auch«, sagte er, »Ihre Briefe an Ihren fernen Zeitfreund exakt an.« Das ist tatsächlich, wie wir sehen, richtig. Trotzdem komme ich mir durch all das noch mehr wie ein Zeit-Seiltänzer vor. Manchmal habe ich schlechte Träume. Sie sind wirr und bedrückend. Mehrmals träumte ich schon, daß ich irrtümlich statt zurück in meine Zeit-Heimat noch weiter in die Zukunft gereist bin. Diese Blätter sind zwar nicht da, um so müßiges Zeug wie Träume aufzuschreiben, aber ich spinne den Gedanken des Traumes fort: wenn schon die Zukunft, die ich hier erlebe, ein Abgrund an Perversion ist, was für unmenschliches Chaos bringen dann die nachfolgenden tausend Jahre?
Denn eines, teurer Dji-gu, ist mir klargeworden, was wir beide nicht gewußt haben und was uns allen unvorstellbar ist: die Welt wandelt sich. Sie nennen es hier Fort-Schritt. Schon ein sehr entlarvendes Wort – ich habe es Dir wörtlich übersetzt. Fort-Schritt – der Schritt, der fort führt. Man möchte meinen, das sei etwas Bedauerliches, wenn man aus der gewohnten, bewährten, vielleicht geliebten Umgebung fortschreitet. Aber nein: sie – die Großnasen hier – finden ihren Fort-Schritt wünschenswert und sogar tugendhaft.
Du verstehst das alles nicht, das ist mir klar. Du kannst es nicht verstehen. Sieh: eine Ameise bleibt eine Ameise und ein Elefant bleibt ein Elefant. Wir kennen Ameisendarstellungen aus der Zeit, sagen wir, aus der Zeit der unvordenklichen Shang-Dynastie, wir kennen die Ameisen, die – dem Himmel sei’s geklagt – überall in unseren Häusern herumkrabbeln, und ich kenne Ameisen, die hier in der Welt der Großnasen leben. (Es gibt sie noch, die Ameisen, wenige, wo sollen sie auch ihre Häufchen bauen in dieser Steinwüste, aber es gibt sie noch. Im Park der ehemaligen Wu von Ba Yan habe ich sie gesehen.) Ameise ist Ameise geblieben. Das gleiche gilt von Elefanten, gilt vom Pferd. Ein Baum ist ein Baum. Gut – die Hunde sehen hier ganz anders aus als unsere Pekinesen, aber Hunde sind in meinen Augen ohnedies nur gut zum Braten. (Übrigens: hier ißt man keine Hunde, dafür sonst alles mögliche, zum Beispiel groteskerweise Ochsen. Aber davon ein anderes Mal. Nur soviel: als erstes werde ich mir nach meiner Rückkehr eine Pekinesen-Leber zubereiten lassen. Das geht mir hier ab.)
Die Natur ändert sich also nicht oder zumindest nur sehr langsam. Der Mensch ändert sich auch nicht, und wir – ich meine Dich und mich, lebend unter der Glorreichen Sung-Dynastie, die der Himmel in seinen Schutz nehmen möge, wir können die Schriften des Göttlichen Meisters K’ung-fu-tzu lesen, obwohl er eineinhalbtausend Jahre vor unserer Zeit gelebt hat, und wenn ich meine Zeit-Reise rückwärts unternommen hätte, und ich hätte den Göttlichen auf seinem Philosophenhügel besucht, und er hätte mich Regenwurm für eine Ansprache unverdientermaßen für würdig erachtet – ich hätte seine Worte verstanden.
Nicht so hier. Es gibt auch Weise, die hier in Min-chen gelebt und
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