Briefe in die chinesische Vergangenheit
hinzugewählt, oder konnten sich die krummgeschwänzten Teufel von Dichtern immer noch nicht einigen? – Schreibe mir dennoch bitte, so oft es geht. Und schreibe mir immer, was meine süße Shiao-shiao macht.
Der Grund, warum ich Dir heute schon wieder schreibe, ist meine Sorge, ob es nicht zu unvermuteten Komplikationen zwischen Herrn Shi-shmi und mir kommt. Zwar bin ich so weit, daß ich mich hier in dieser Welt einigermaßen selbständig bewegen könnte, dennoch täte mir ein Zerwürfnis leid, denn ich hege, wie Du nach allen meinen bisherigen Ausführungen über ihn erkennst, wirkliche freundschaftliche Gefühle für ihn, die fast an meine Gefühle für Dich, teurer Dji-gu, heranreichen, und zweitens wäre es schade um die Erkenntnisse, die ein in dieser Welt der Dummheit so seltener Mann von Verstand, wie Herr Shi-shmi es ist, mir vermitteln kann.
Das Ganze hängt mit dem Besuch zusammen, von dem ich Dir gestern geschrieben habe.
Bis jetzt habe ich, wie Du aus meinen Briefen weißt, fast ausschließlich mit Herrn Shi-shmi gesprochen. Ab und zu (in letzter Zeit häufiger) bin ich einkaufen gegangen, habe mich mit den Großnasen in den Läden unterhalten – ich will ja auch deren Lebensgewohnheiten und Meinungen kennenlernen –, gelegentlich wechsele ich sogar ein Wort mit der hochmögenden Dame Kmei-was-wai im Stiegenhaus, die offenbar den peinlichen Vorfall mit meiner unangebrachten Darmentleerung verziehen oder sogar vergessen hat. Ich bin auch immer sehr höflich zu ihr, wenn ich sie sehe, und ich sehe sie oft, denn sie steht in ihrem geblümten Kleid, auf einen Besen gestützt, der offenbar das Zeichen ihres Amtes ist (eine praktische Bedeutung hat der Besen nicht, denn ich habe sie nie kehren sehen), fast immer auf einem der Vorplätze der Zentraltreppe. »O hohe Blume des Hauses«, grüße ich sie – so gut kann ich schon die Sprache der By yan-Großnasen, »o wohlduftende Begonie mit dem Mond-Antlitz, der nichtswürdige Wurm Kao-tai grüßt dich ehrfürchtig und wünscht dir einen honiggetränkten Sommermorgen«, oder so ähnlich, was man eben so sagt. Zunächst war sie immer eher kühl auf meine Anrede hin, aber seit ich ihr – auf eine Empfehlung von Herrn Shi-shmi – einen blauen Papier-Geld-Brief mit einer Drittel-Verbeugung überreicht habe, ist sie die Freundlichkeit selber.
Aber alle diese Unterhaltungen sind natürlich nur ephemerer Natur. Für meine eigentlichen Fragen war ich auf Herrn Shi-shmi angewiesen, der aber schon vor einiger Zeit gesagt hat: langsam müsse er daran denken, mich mit anderen Leuten bekanntzumachen, damit sich mein Gesichtskreis erweitere. Die Einladung, jene Dame zu besuchen, von der ich gestern kurz geschrieben habe, war die erste solche Gelegenheit.
Die Dame heißt Frau Pao-leng und wohnt in einem entfernten Stadtteil. Wir – Herr Shi-shmi und ich – mieteten (das gibt es, wie man bei uns, wenn man nicht selber eine hat, eine Sänfte mit Träger mieten kann) einen A-tao-Wagen und fuhren gegen Abend hin. Wir fuhren eine halbe Stunde. Die Dame wohnt in einem Haus ähnlich dem von Herrn Shi-shmi. Ihre Wohnung ist aber größer als die unsere. (Ich sage: die »unsere« und erlaube mir damit, Herr Shi-shmi ist sicher einverstanden, die seine hier der Einfachheit halber so zu nennen.)
Nun ist das alles auch sehr kompliziert und Dir auf den ersten Anhieb wohl nicht ganz verständlich. Die Weiber der Großnasen werden ganz anders behandelt, als es unsere althergebrachte Gewohnheit ist, auch ganz anders, als es der Lehre des Himmlisch-Erhabenen K’ung-fu-tzu entspricht. Die Weiber bewegen sich, so komisch das klingt, im Haus, auf der Straße, in aller Öffentlichkeit und überhaupt immer geradeso wie Männer. Unter anderem deswegen ist es mir anfangs schwergefallen, Männer und Weiber zu unterscheiden. Aber inzwischen habe ich es gelernt. (Auch ohne Regenschirme.) Erstens rasieren sich nicht alle Männer vollständig, wie es Herr Shi-shmi tut. Viele tragen Bärte, ähnlich unserer Sitte. Aber auch an denjenigen, die sich vollständig rasieren, kann man bei genauerem Hinsehen den rasierten Bartwuchs erkennen, denn die ganze Rasse der Großnasen zeichnet sich durch starke Behaarung aus. (Nur haben sie unverhältnismäßig oft eine Glatze, was wohl daran liegt, daß viele ohne Kopfbedeckung herumlaufen. Bei dem ständigen regnerischen Klima hier führt das dazu, so sehe ich das, daß ihnen die Haare verfaulen. Es macht ihnen aber nichts aus.) Die Weiber aber erkenne
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