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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Rosendorfer
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Handgelenk tragen. Es gibt aber auch solche Zeit-Anzeiger in größerer Ausfertigung, die wie Standbilder an Straßenecken stehen oder wie Bilder in den Wohnungen an den Wänden hängen. Ständig hantieren sie an diesen Zeit-Anzeigern herum, verstellen sie, drehen daran, damit sie ja die ganz genaue Zeit anzeigen.
    Sonnenaufgang, Sonnenuntergang, Mittagsstunde und so fort sind ihnen viel zu ungenaue Anhaltspunkte. Die Zeiteinteilung ist äußerst verfeinert. Die Großnasen kennen wie wir das Jahr, den Monat und den Tag, aber dazwischen haben sie noch eine Unterteilung, die Wo-’che heißt und ungefähr dem Mondviertel entspricht. Den Tag wiederum teilen sie nicht nur in Stunden ein, sondern darüber hinaus in Sechzigstel-Teile der Stunden (Mi-nu-teng) und sogar in Sechzigstel-Teile der Mi-nu-teng, dieser winzige Zeitraum – vielleicht der Flügelschlag eines Sperlings – heißt: Se-kung-dang. Das alles zeigen die kleinen und großen Zeit-Anzeiger an. Herr Shi-shmi hat mir einen geschenkt, den ich nun auch um das linke Handgelenk trage, und er hat mich auch gelehrt, die Zeit abzulesen.
    Wenn ich also jemanden besuchen will, oder jemand besucht mich, so muß ich zur Rübe greifen, in den Löchern drehen und mit dem Betreffenden vereinbaren: am soundsovielten Tag der Wo-’che (jeder Tag hat eine reihum wiederkehrende Bezeichnung), wenn der Zeit-Anzeiger die soundsovielte Stunde und soundsovielte Mi-nu-teng anzeigt. (So weit, daß sie den soundsovielten Sperlingsflügelschlag heranziehen, treiben sie – muß man gerechterweise sagen – ihren Unfug nicht.)
    Es ist ein altes Gesetz, daß unterteilte Dinge kleiner sind als das Ganze. Das ungeteilte Ganze ist größer als die Summe der Teile. Zumindest gilt das, habe ich hier gelernt, in hohem Maß von der Zeit. Geteilte Zeit vergeht rasch. Die Großnasen haben ihre Zeit erbarmungslos zerhackt, und die Zeit rächt sich damit, daß sie entflieht, so schnell sie kann. Und darüber wundern sich die Großnasen ständig. Ständig jammern sie, daß ihnen – um einen Ausdruck jenes Herrn an dem Abend bei der Dame Pao-leng zu gebrauchen, dessen Namen ich mir nicht gemerkt habe – »die Zeit in den Händen wie Wasser zerrinnt«. Ist denn noch keiner von ihnen draufgekommen, darüber nachzudenken? Es ist doch nicht schwer, den Zusammenhang zu erkennen. Mir ist schon mehrfach aufgefallen, daß man hier die Floskel: »…der ist einer, der immer Zeit hat« als Schimpfwort gebraucht. Daß den Großnasen dabei nicht sogar selber etwas auffällt? Aber Denken ist nicht die Stärke der Großnasen … dazu »haben sie keine Zeit«.
    Herr Shi-shmi, dem ich diese Überlegungen mitgeteilt habe, hat sehr nachdenklich reagiert. Er hielte es nicht für ausgeschlossen, daß ich recht hätte. (Natürlich habe ich recht!) »Warum«, fragte ich ihn, »ziehen Sie dann nicht die Konsequenzen aus dieser Erkenntnis?« Einer allein, sagte er, könne sich nicht gegen die allgemeine Zeitzerstückelung stemmen. Das würde die Ansichten der andern nicht ändern und ihm selber nur schaden. Gut, vielleicht ist das richtig. Mag er tun, was er will. Ich bin nicht gekommen, um diese Welt hier zu ändern, sondern um sie zu erforschen und um Erkenntnisse für unsere Welt zu gewinnen.
    So habe ich also mit Frau Pao-leng vereinbart, daß ich am dritten Tag der nächstfolgenden Wo-’che (das ist: ein Tag vor dem Septemberneumond), wenn der Zeit-Anzeiger die fünfzehnte Stunde sowie dreißig Mi-nu-teng anzeigt, zu ihr komme.
    Herr Shi-shmi weiß davon. Mein Mißverständnis ist ausgeräumt, denn es war ich, der die Beziehung zwischen Herrn Shi-shmi und Frau Pao-leng mißverstanden hatte. Herr Shi-shmi hat kein Interesse an Frau Pao-leng, das den Besuch anderer Männer bei ihr verböte. Ich habe ihn eines Tages ganz offen gefragt, und er hat gesagt, daß es gut sei, wenn ich so offen frage, denn auch ihm täte es leid, wenn so ein Mißverständnis oder gar Eifersucht zwischen uns stände. Er sei, sagte Herr Shi-shmi, mit Frau Pao-leng lediglich befreundet. Ansprüche an ihren Körper stelle er nicht. Er fügte hinzu, und es war ein warnender Ton in seiner Stimme nicht zu verkennen, daß Frau Pao-leng im Ruf stehe, für Männer nicht ungefährlich zu sein. Es handle sich bei ihr zwar, wie ich selber gesehen hätte, um keine Kurtisane, die aus ihrem Geschlecht einen Beruf mache, aber sie führe, wie Herr Shi-shmi es formulierte, »ein lockeres Leben«, was nur durch den weiteren Umstand, daß sie in allen Künsten

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